Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


Juni 1945


Juni 1945, Heidelberg
 
Welch ein Hohn, diese herrliche Sommerwelt und das tiefe Elend in Deutschland! Wahrhaftig, es ist ein Fluch, Deutscher zu sein, ein Fluch, dieser Generation anzugehören, die das Grauenhafteste erlebt, was je über Menschen hereingebrochen ist. - Am 14. Juni schlug der Tag der Befreiung in Erding. Man kommt aus dem Krieg und steht vor dem Nichts, in des Wortes reinster Bedeutung. Ich will nach Köln gehen, in die alte Heimat und versuchen, dort irgendwie festen Boden zu gewinnen. Ob nicht diejenigen glücklicher sind, die aus diesem Krieg nicht mehr heimkehre? Für Mutti gab ich 2 Leuten, die nach Plauen und Olmütz gingen, Briefe mit. Ich kann vorläufig nicht zu ihr, da das Gebiet Sachsen und Thüringen von den Russen besetzt wird. Dauernd verschieben sich die Zonen der Besatzung, nirgendwo herrscht Klarheit. Wenn hier nicht das Sprichwort zutrifft, viele Köche verderben den Brei! - Von Erding ging es mit dem LKW nach Freising, dort setzte man uns auf die Straße. Nicht odrnungsgemäß, aber sehr bequem für die Amerikaner. Mit Schulze zog ich dann los - Richtung Neuburg - Ingolstadt, er wollte Station in Neuburg bei früheren Quartiersleuten machen, ich desgleichen in Oberndorf. Wanderung bei schönem Wetter über Allershausen. In der Nähe der Autobahn in Pfaffenhofen finden wir Unterkunft in einem Hof. Herrliche Milch und Speck!


Am nächsten Tage gehen wir auf der Autobahn weiter, und es gelingt uns, einen LKW anzuhalten, der Entlassene nach Essen zu bringen hat. Damit fahren wir bis Nürnberg. Schulze steigt vorher nach Zwickau um. Ich bin unentschlossen, ob ich direkt mit durchfahren oder einen Besuch in Erlangen machen soll. Als ich dann erfahre, daß ein Omnibus nach Erlangen hinausfährt, entschließe ich mich kurz dazu, frage mich dann durch das kleine Städtchen, das vom Lärm und Verkehr der Amerikaner erfüllt ist, und finde die junge Frau G. auf der Schwelle sitzend. Schon beim Aussteigen, als ich eine Frau nach der Straße fragte, hörte ich etwas sehr Befremdliches, was mir dann die beiden Damen bestätigten. Ich konnte einen Blick tun in tiefes Leid und blieb selbst von Schatten umfinstert. Auch die Reinigungsaktionen der Besatzungstruppen sind grausam, wen davon überzeugen [sic!], wieviel wirklich Unschuldige und edle Menschen aus Lässigkeit, Konvention und anfänglicher Unkenntnis das Siegel der Verbrecher trugen. Tiefer Pessimismus erfüllt einen, wenn man sieht, daß auch jetzt nicht Großzügigkeit und Großmut Geister und Handlungen regieren, sondern daß mit Berechnung gestraft wird und Rücksichtslosigkeit herrscht. Gwiß, genug Grund zur Strafe liegt vor, aber wir sind gestraft genug durch die Opfer eines unmenschlichen 6-jährigen Krieges und die großen, mächtigen und reichen Sieger dürften Verständnis zeigen.
 
Juli 1945
 
De profundis - aus der Tiefe des Nichts. Diese Rückkehr nach 6 Jahren des Kämpfens und Verzichtens in eine in Trümmern liegende Welt ist das Furchtbarste, was je einer Generation Menschen zugedacht wurde. Ohne das geringste persönliche Eigentum schlüpft man unter - bei Freunden herzlich aufgenommen - aber doch so vollkommen rechtlos in der Armut - alles, was einst die materielle Lebensgrundlage ausmachte, ist verschwunden und vernichtet. Und der schützende Freund, ganz Hilfe, Liebe und Vertrauen, fehlt - allein vor dem Chaos. Ich finde keine Kraft mehr vor dem Übermaß der Zerstörung und der entfesselten Bestie Mensch. - Am 23. Juni gegen 16:00 treffe ich in Hennef-Geistingen bei Edit ein. Die bange Frage Wie weiterleben? wird von ihr und mir hinausgeschoben. Keiner weiß, wo anzufangen ist. Ruhige, friedliche Tage, gehaltvolle Unterredungen mit Pater Roß, die mir sehr wohltun. Jetzt müssen Sie sehr aufmerksam sein, was Gott mit Ihnen vorhat.


Am 26.6. morgens kommt Gustel, geradewegs aus Bad Elster von Mutti! Große Freude. Tiefe Dankbarkeit zu Gott. Mutti hat meinen ersten Brief aus Erding erhalten. Wir bleiben zusammen bis Donnerstag und fahren dann ab. - Trüber Empfang von Frau E. in Sürth. Das Haus ist außer ihr von einer 8-köpfigen Familie bewohnt. Sie überschüttet uns mit ihren Sorgen, ist aber innerlich keineswegs bereit, uns aufzunehmen, sondern will unsere Rückkehr und unseren Anspruch auf das Haus nur als Vorwand zu egoistischen Zielen benutzen. Kaum, daß sie sich dazu bereit erklärt, uns etwas Kleidung von Papa zur Verfügung zu stellen. Mein Vater hat unser persönliches Elend mitverschuldet, ungerechterweise hat er uns enterbt, und Gustel glaubt durch sein Verhalten irgendwelche Vorteile für uns (sich) retten zu können. - Ich schreibe nicht mehr weiter, die Gedanken sind zu klar und zu schmerzlich. Warum leben wir noch, welchen Sinn unterlegt Gott meinem Dasein? Nichts, nichts ist mehr geblieben, worauf man festen Fuß fassen könnte.