Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


5. - 6. September 1944


5. September 1944
 
Fußmarsch vom Baumholder nach Namborn. Schönes, helles, herbes Wetter über dem langgestreckten Bergrücken. Das ganze Gebirge öffnet sich in großem Streben nach Südwesten hin. Im Anfang lagen wir im Graben, Tiefflieger trieben ihr Spiel und in großen Formationen kehrten die amerikanischen Flugzeuge, langsam ihre Schlachtordnung silberner Vögel vor dem Himmelsblau herschiebend, von ihrer Zerstörungsarbeit aus Deutschland zurück. Wm. R. versucht unterwegs aus nicht ersichtlichen Gründen den Marsch durch militär. Mätzchen wie Stahlhelm-Aufsetzen usw. zu erschweren. Mir tat diese Bewegung in der Natur sehr wohl. In Namborn auf dem Schulhof werden von Wm. P. die Quartiere verteilt, ich komme mit Vorl. Zusammen, was mir einen gelinden Schrecken einjagt und zu allerhand einschlägigen spöttisch-witzigen Kommentaren von Seiten Lep. usw. Anlaß gibt. - Wir kommen zu einer netten, vom Krieg allerdings schon heimgesuchten Familie. N. ist übrigens ein Ort, in dem sich das Bäuerliche mit dem Industriellen (das nahe Saar-Kohlenrevier) mischt. Die Leute (Männer) haben etwas Landwirtschaft, aber daneben ihren sehr anstrengenden Dienst in den Gruben. Sie sehen daher sehr verarbeitet und ausgehöhlt aus. In meiner Familie war 1 Sohn gefallen, ein anderer stand freiwillig bei der SS. Von ihm lag seit Wochen keine Nachricht vor. Die positive politische Einstellung, die früher sehr stark in dieser Familie gewesen sein muß, war irgendwie in Verfall geraten durch diese Ereignisse und die drohende augenblickliche Lage, und sie alle waren ratlos in dieser Situation und schwebten zwischen Hoffen und Zagen. Das heilsame scharfe Denken und Erkennen war ihnen fremd, an ihnen fand Propaganda willige Beute - deutsche Tragik, Blindheit, wo kannst du beredter sein?!


Die Töchter waren sehr hübsch und gesund, die Mutter eine gute, herbe Frau, die Tante voller galliger Ressentiments gegen irgendwelche Schuldige, aber nicht gegen die richtigen! Sehr sauber, sehr gutes Essen. Ein Idyll schien sich entwickeln zu wollen. Den nächsten Tag hatten wir noch für uns. Nachmittags ein Gang mit Stefan in die schöne, fruchtbare Umgebung. Man überläßt sich gerne dem ruhigen Rhythmus, der abends eine jähe Unterbrechung erfährt. Die fama trägt plötzlich durch, daß ein Marineoffizier im Range eines Oberstltns. uns für den Westwall oder eine Durchbruchsstelle konfiszieren will. Er sei mit dem Wagen vorgefahren und habe nach Lt. Gr. gefragt. Dieser habe sich dann sogleich nach St.Wendel zu Verhandlungen begeben. Es ist erstaunlich, mit welcher Geschicklichkeit der kleine Gr. unsere Interessen in der Höhle des Löwen immer zu vertreten weiß und auch diesmal - wie in Nancy - eine günstige Lösung erwirkt. Die Ungwißheit weicht bald der ungefähren Sicherheit, daß daß die diesmal besonders drohende Gefahr wieder einmal gebannt ist. Man erwartet noch ein Gespräch aus Köln, wahrscheinlich die Abreise betreffend.
 
6. September 1944
 
Wir reisen ab und zwar nach Köln. Die üblichen, schon gewohnten Vorbereitungen. Es regnet. Dann wieder der Abschied von den Quartiersleuten, die einem immer etwas von der umsorgten Familienatmosphäre schenken, die sie ihren Angehörigen im Felde auch unter ähnlichen Umständen von fremder Seite wünschen. Dieser allgemeine menschliche Zug der caritas ist Zeugnis für die heute zurückgedrängten, aber doch elementaren Grundkräfte der menschlichen Seele. Man könnte fast glauben, der Mensch sei gut. - 1330 fahren wir ab, Militär mit einem leichten Anstrich einer Zivilreisegesellschaft. Es geht durch die schöne, erst vor wenigen Tagen in entgegengesetzter Richtung durchfahrene Landschaft des Nahetals. Am Spätnachmittag sind wir in Bingerbrück, es grüßt mich der heimatliche Strom, meine Augen wandern die felsigen Weinberge entlang zum Niederwalddenkmal und auf die schiefergrauen, hohen Dächer Bingens: es ist wie der Anblick eines alten, lieben Gesichtes, in dessen Oberfläche man die Erinnerungen an eine glücklichere Vergangenheit wiederfindet. Wir dürfen den Bahnhof nicht verlassen, nehmen beim Roten Kreuz die berühmte Roggenbrotsuppe ein und dann plaudere ich mit Dberg im Warteraum I.Kl., der in einem merkwürdigen Tempel-Stil erbaut ist: die Büste auf hohem Sockel vor einer von Säulen abgetrennten Nische, in der dunkelrote Dämmerung herrscht! Unerträglich! Wir plaudern sehr angeregt über Studienfragen und spezielles Allgemeines. D. hat bei Naumann promoviert und ist ein geistvoller, sehr sympathischer Mensch.


Gegen 2030 fahren wir weiter nach Koblenz. Im sinkenden Dämmerlicht eines mühsam aufgeklarten Regentages zieht die besungenste Strecke mittelrheinischer Landschaft wieder an den Augen vorbei. An den Erinnerungen aus frühester Jugend messe ich die Bahn meines Lebens. Die Menschen im Coupé erzählen in schlichten Worten von ihrem Leid, vom Beschuß auf Züge, auf Schleppkähne und Dampfer, vom Brückenbau, der sinnlos spät begonnen wurde. Dieser tiefe Blick aus Mutteraugen zum fast erwachsenen Sohn = Liebe, Aufopferung und jener Willen, wenigstens diesen Menschen gegen alle Raubmächte der Erde zu verteidigen, und jene tiefste, letzte Angst nur wie ein Schauer: das Wissen um die Grenzen mütterlichen Bereiches in dieser Welt. Ach, diese Menschen, wie offen sprechen sie, wie sehen sie klar, wie sind sie machtlos und wie verzweifelt und resigniert sind sie, vielleicht aus unterdrückter Wut zu befreiender Tat, aus Qual an sich selbst und an jener Kette von Tagen, von denen jeder ein Beweis für die Unmöglichkeit des folgenden sein könnte, aber jedem ist sicher einer gefolgt und diese endlose Kette nennen sie Leben...

In Koblenz warten wir in der noch sehr lebhaften Halle auf Anschluß. Überfüllte Fernzüge rollen langsam vorbei. Dann würgen wir das schwere Gepäck in ein dunkles, schon von Menschen dumpfes und warmes Abteil. 00:30 steigen wir in Köln aus. Eisige Nachtkühle sinkt vom Himmel durch die glaslose Stahlkonstruktion des Bahnhofs. Noch nie war ich mit einer Einheit, zu der ich selbst gehörte, in meiner Vaterstadt. Ich friere - wie fremd ist doch alles, wie entrückt. Wir schleppen das Gepäck noch mal auf einen anderen Bahnsteig. Das wundert mich, denn nach Frechen fährt doch gar keine Eisenbahn. Aber ich werde ja nicht gefragt. Schließlich zockeln wir dann in die große Vorhalle, das Gepäck wird abgelegt und wir begeben uns über den menschenleeren, windigen Domplatz an Schutt und Trümmern vorbei in ein im ehemaligen Haus Baum vor kurzem eröffnetes großes Durchgangslokal, das ununterbrochen geöffnet ist. Müde setzt man sich an die Tische. Der große, im sehr groben, sehr verwässerten unvermeidlich altdeutschen Stil hergerichtete Raum ist ziemlich besetzt. Ich sitze mit Stefan etwas erhöht. Unten im Saale ein Podium mit Klavier. Tatsächlich bringt es jemand fertig, ein Soldat und ein undurchsichtiger Zivilist, Stimmung zu machen auf erschütternd alberne, dumme und dreiste Art und kaum die Primitivsten werden davon angesprochen. Ein Spülmädchen piepst bel ami und ein rotgesichtiger, grober Landsertyp trompetet das Wolgalied und Dein ist mein ganzes Herz. Jener Zivilist bringt es auf Grund einer Einflüsterung fertig, St. zum Singen aufzufordern. St. schüttelt ihn ab.

Dies alles hat geradezu etwas Dämonisches, Unheimliches an sich, wenn man nachdenkt, wo, wann und unter welchen Umständen es sich vollzieht! Links unten sitzen an vielen Tischen, mit den äußeren Zeichen eines bevorstehenden Einsatzes, Parteigenossen in Braun. Die Farbanhäufung hat geradezu etwas Aufreizendes an sich. Welche Typen! Ihre Haltung verrät sie, ohne daß man erst in den Gesichtern sucht. Einige spielen Karten, andere sitzen stumpf vor ihrem Biertopf und sehen mit dem Lächeln eines zurückgebliebenen Kindes zum Podium, wo sich irgendjemand produziert. Andere wieder schlafen halb liegend oder aufgestützt. Die Müdigkeit und Abspannung läßt ihre Seele in ihre Gesichter treten. Jede kleine, häßliche Falte ist erfüllt davon, ja in ihrer Müdigkeit sind sie irgendwie alle nackt und von beängstigender gefährlicher Erbärmlichkeit. Ich denke an die Maler, für deren Pinsel oder Stift jenes sujet Anlaß zu cynisch-bissiger Schöpfungslust und erbarmungsloser Kritik an der species Mensch gewesen wäre: Hieronymus Bosch, Breughel, Daumier bis zu Otto Dix und George Grosz... - Nach vier Uhr verlassen wir diesen Raum, holen das Gepäck vom Bahnhof und ich weise dem Zug den Weg durch die morgengrauende Ruinenstadt... - (geschrieben am Tage, da ich von der Auflösung [der Einheit] erfuhr.)