Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


25. - 26. August 1944


25. August 1944
 
In der Nacht langsam die Stadt Dijon umfahren. Bahnhof D-Porte-Neuve. Dort wieder Schwierigkeiten mit der Maschine. Abfahrt nach 11 Uhr Richtung Nancy zuerst bis Is-sur-Tille. Hübsche idyllische Lage. Klares Flüßchen, in dem gebadet wird. Ich betrachte die Internierten; von den Frauen scheint eine krank zu sein, sie ist älter und liegt auf einer Decke. Andere legen ihr ein nasses Tuch auf die Stirn. Vor Is wird der Zug geteilt und nacheinander in den Banhof gebracht. Um 15 Uhr - ich hatte Wache und konnte leider nicht baden - weiter nach Culmont-Ch. Ein ½ stündiges Bombardement hat den Ort teilweise, die Bahnanlagen völlig zerstört. Riesige Trichterfelder schwerster Kaliber, braungelber Boden. 70 Lokomotiven, zu wirren, grotesken Metallhaufen zusammengeballt, liegen in der Ebene. Langsam weiter gen Neufchâteau. Schwierigkeiten mit dem französischen Lokführer, der angetrunken ist. Luftspäher. Einsam die Landschaft. Nachdem die östlichen Hügel des Plateaus von Langres, des bekannten Quellgebietes, sich geebnet haben, umfängt der Blick die dünnbesiedelte, einsame Hügel-Feldlandschaft der Haute-Marne, eines der bevölkerungsärmsten Départements Frankreichs. Die wenigen Orte fast ausgestorben, die Bahnstrecke Zufall und Willkür überlassen. Das französische Personal hat kein Interesse mehr, der geschlagenen Armee den Rückzug zu erleichtern. Man fährt aufs Geratewohl und die Androhung von Waffengewalt von Seiten der Polizei wirkte nur einschüchternd und nicht beschleunigend, zudem verraten sie das Chaos, das sonst hier wenig sichtbar ist.
 
26. August 1944
 
Morgens von 5-7 Uhr habe ich Wache. Der Zug steht auf dem Bahnhof von Neufchâteau. Gegenüber ein Zug nach Epinal, an dem eine Gruppe Nachrichtenhelferinnen lacht mit jener typisch deutschen Naivetät, in der sich so viel gänsehafte Dummheit mit Weltunerfahrenheit paart, daß man fast ratlos davor steht. Europa und Deutschland brechen zusammen, es scheint, als ob davon kein Schimmer diese Garnitur streift. Man kann auf einem endgültig sinkenden Schiff nicht mehr in begrenzter deutsch-süßlicher Seelenidyllik machen. Was suchen überhaupt die Frauen in der Armee, es ist eine Schande, und wieviele sind schon im verbrecherischen Wahnsinn des Krieges aus ihrer Hausmütterchen-Romantik und ihrem deutsch-nordisch [bemäntelten] Dienst, der oft genug nur Vorwand für ein freies und haltloses geschlechtliches Sich-Ausleben war, in Not und Elend geglitten! - Wir kommen nach Toul, berühmt aus der Geschichte der frühen deutsch-französischen Beziehungen und fahren durch das obere Moseltal, eine wundervolle, feucht-dunstige, sattgrüne, aus dem langsam fließenden dunkelgrünen Wasser sich nährende Landschaft, in den sich der warme Ton der Frühsonne mischt, in südostlichem Bogen von Nancy nach Blainville. Großer, öder, teilweise zerstörter Verschiebebahnhof, der unter dem bleiernen Licht mit seiner kohligen, schlackigen Erde und der rußigen Luft jenes typische Gefühl von Verlassenheit, das verlassene und unbelebte Bahnanlagen auslösen, hervorruft. Man sucht Erfrischung in einem Bad in der ebenfalls sehr rußigen Meurthe. Inzwischen wurde mit Nancy telephoniert und die Leere vor uns beginnt sich zu beleben: Die in Paris verbliebene Kompanie konnte sich nicht mehr retten, hat an Straßenkämpfen teilgenommen und das Schicksal all derer geteilt, von denen verlangt wurde, eine der schönsten Städte der Welt in dem verbrecherischsten aller Kriege zu verteidigen. Die Dienststelle in Nancy wird aufgelöst und die Einheit vorläufig zur sog. Brandbekämpfung eingesetzt.


Ein unbehagliches Gefühl beschleicht mich und eine Wut, daß wir in dem Wahnsinn fortfahren, der uns in den Abgrund stürzen muß. Wo ist die Vernunft des Deutschen geblieben, der blind und mit einer Borniertheit ohnegleichen, ja geradezu mit wollüstigem Willen das in die Augen Springende der Lage in seiner fortwährenden Zuspitzung nicht sehen zu wollen scheint, wo ist sein moralisches Gewissen angesichts des Hinmordens seiner Frauen und Kinder, die nun auch an die Front geschickt werden, angesichts so vieler Unschuldiger anderer Rassen und Nationen, die er unterdrückt und vernichtet in frevelhaftem Vergehen gegen eine höhere Ordnung, die er umzustürzen sich anmaßt! Brutale, schmerzliche Abgründe der Volksseele! - Wir können noch eine gute Suppe - tierhaftes Versinken in der Materie - essen, während die Wagen nach Nancy rollen, zu weit zuerst bis Champignolles, dann endlos zurück bis zum Verschiebebahnhof. Ach, dieses einlullende, dumpfe Fahren. Inzwischen stürzen Neuigkeiten in gefährlicher Flut über einen herein, denn man hat Fühlung mit der Dienststelle genommen. Ahnungen und Gerüchte bestätigen sich und steigen in einer Woge empor, geboren aus dem allgemeinen Aufruhr. Der größte Teil der Kompanie mit dem Hauptmann ist in Paris verblieben. Sämtliche Civilangestellten sind natürlich entkommen. Der nach Nancy versetzte Teil der Kompanie liegt 30 km s/w. in Thorez und soll dort den Maquis in Schach halten. Als Quartier wurde ihnen ein Schloß, das sich bisher im Besitze der Familie des Marschalls Lyautey befand und nicht belegt war (sehr typisch!), zugewiesen. Man schont in Frankreich nichts mehr. Wm. Blako, der in den Gesse-Skandal verwickelt war, ist von Lyon nicht mehr nach Paris zurückgekehrt. Wir sollen auch so bald wie möglich heraus zu den anderen. Das verzweifelt allerhand unausführbare Gedanken wälzende und bearbeitende Gehirn hat neue Nahrung in seiner qualvollen Gefangenschaft. In Paris hat die Einheit den Stützpunkt zäh und nach besten Kräften verteidigt. Worüber wir im Frühjahr so oft gespottet hatten und was uns als absolute Unmöglichkeit erschien, es ist Wahrheit geworden! Der Stützpunkt République soll sich am längsten gehalten haben, dann aber auch nur 10 Minuten. Aus den Eingängen der U-Bahn sei die Kaserne von Terroristen und Aufständischen mit Flammenwerfern angegriffen worden.

Es ist mir unbegreiflich, wie sich unter 4-jähriger Besatzung dieses riesige geheime Heer heterogenster Elemente bilden, halten, formieren und zu entscheidender Stunde mit solcher Präzision in Aktion treten konnte! Der Pöbel - doch was versteht man unter solchen Umständen als Pöbel - habe blutige Rache an allen genommen, die irgendwie mit den Deutschen in Verbindung gestanden seien. Aus Passy habe man die haute bourgoisie in den Bois de Boulogne geschleppt und erschossen. Eine zweite Bartholomäusnacht, in der sich alles das, was sich an Haß gegen den Unterdrücker angesammelt hat, entladen konnte durch das niedrigste Ventil. Das Volk der Raison im Blutrausch der Rache! Oh, wie unvollständig sind alle Klischees in der Beurteilung, wie bitter diese Tatsachen für den, der guten Willens und reinen Herzens ist! Denn daß es noch solche Menschen gibt auf beiden Seiten - daran wollen wir glauben - wenn sie auch nun für eine lange, lange Zeit verstummen müssen. Frankreich hat die Niederlage nie verwinden können, und die Praxis unserer Besatzung, die das Land ideell und vor allem materiell unserer Weltbeherrschung erstrebenden Kriegsführung skrupellos auslieferte, hat das gegenseitige Verstehen, das auf den Bahnen persönlicher Begegnungen und geistigen Beziehungen ganz objektiv wieder zu keimen begann, vernichtet, soweit es bereits wieder ins Gesamtbewußtsein eingetreten war. Und der Geist der Tradition, wie sollte er im Großen nicht das Sammelbecken der nationalen Widerstandskräfte sein? Sicher, diejenigen, die jetzt handeln und gehandelt haben, haben weder von dem Geist der Verständigung noch dem Willen zum Chauvinismus ein Bild und einen Hauch, sie sind die anonyme Macht der Masse, die ja auch in der großen Revolution ihre Rolle gespielt hat, indem sie sich sogar gegen das eigene Blut wandte. Die Begegnung mit dieser triebhaften und instinktlosen Masse hat immer etwas Dämonisches.

Das alles vollzog sich vor dem Einzug der regulären Truppen de Gaulles in Paris, der vorgestern Abend stattgefunden haben soll, nachdem in der Gegend des Étoile, der Madeleine und des Concorde-Platzes, wo wir das schöne Gebäude des Marineministeriums in Brand gesteckt haben, erbitterte Kämpfe stattgefunden haben sollen. Man hört ja nie die Wahrheit und das, was wir heute unter Windungen und Verkleinerungen zugeben, geschah vorgestern. Es hat den Anschein, als hätten die Alliierten de Gaulle allein die Ehre zukommen lassen wollen, im Triumphzug in Paris einzuziehen. Man hört gerüchteweise (wie weiß man gut, woher die Gerüchte stammen!) von einem Fackelzug und von einem wahren Delirium der Begeisterung des befreiten Volkes. Jedenfalls scheinen nach unseren Berichten (man wird die Wahrheit doch einst erfahren) die Alliierten sich mehr dem Kampfe und der Verfolgung der geschlagenen deutschen Armeen zu widmen, indem sie Paris umgehen und nördlich wie südöstlich in der Richtung auf Châlons s/Marne Panzerkeile vortreiben. Daß wir, unmittelbar vor dem Zusammenbruch und unfähig, dem Wahnsinn durch eine die Menschheit erlösende Tat zu steuern, uns selbst zu heilen und noch das Vorhandene und die moralische Ehre zu retten, Paris verteidigen und Frankreich zum 2.Mal verwüsten und das mutwillig mit dem Wissen um den Untergang, das wird uns die zivilisierte Welt, das wird uns Frankreich nie verzeihen! Und das ist unter vielen Unverzeihlichkeiten das Unverzeihlichste!

Gegen ½ 8 abends beginnen wir mit dem Abladen. Der Wagon geht weiter nach Köln und soll das gesamte Privatgepäck mitnehmen. Der Bahnhof liegt voller Transporte, dauernd werden neue durchgeschleust, und sogar einige Zivilzüge fahren noch mit merkwürdig farblosen Insassen in diesem Gebiet, in dem vor einigen Jahren eine gewaltsame Germanifizierung einsetzte, doch wer wollte daran zweifeln, daß Lothringen immer ein gewichtiges Reservoir des französischen Nationalismus gegen die bisher immer andauernde latente Gefahr aus dem Osten sein wird. Als wir unsere Koffer abladen, werden vom gegenüberliegenden Transport - rauhe, beschränkte Panzergrenadiere, die zur Front müssen - gehässige Stimmen laut und S. erzählt, daß es vorhin auf dem Bahnhofsvorplatz zu Zusammenstößen zwischen deutschen Soldaten gekommen sei. Untrügliche Zeichen! Einer von uns hatte auf der Fahrt als Antwort auf das Woher und Wohin von einem dieser tierhaften Durchschnittstypen des Soldaten zur Antwort bekommen: Ja, wir sollen dann wohl die Engländer wieder raushauen! C'est la bête humaine, auch das ist der Mensch in seiner tiefsten Erniedrigung!