Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


2. - 3. September 1944


2. September 1944
 
Samstag. Am Morgen stehen wir in Meisenheim/Glan, wo ich 1937 mit Kurt und Grete in lauschigen Winkeln Aufnahmen machte und mich am milden südlichen Hauch erfreute. Trüber Himmel, Weinberge, Nähe der westdeutschen Heimat, zu schmecken und zu fühlen in Luft, Form und Wesen der Landschaft. Wir erheben uns mühselig aus verkrampften Lagen, atmen die aromatische Luft, in die bald der Regen seine grauen Fäden zieht, und der Nebel verhüllt die Berge und Fruchtbarkeit der Täler. Herr W. bringt den trägen Bahnhofsvorsteher mit dem geistigen Schreckschuß der Nennung der höchsten Stelle, in deren Auftrag wir unterwegs sind, dazu, uns schnell weiterzubefördern. Langsam kommen wir nach Bad Münster a. Stein - Erinnerungen - Im Bahnhof nehme ich schnell einen warmen Imbiß ein und spüre die Unruhe und Nervosität der Bevölkerung in der Unterhaltung mit einer Dame, die mir einen Aufruf in der Zeitung zeigt, die die Bevölkerung des Ruhrgebiets zur Verteidigung aufruft. Von einer Landung in der Dt. Bucht weiß man nichts, sie meint, in Bergen (Norwegen) sei eine solche erfolgt. Ich sage ihr klar meine Meinung, der sie zustimmt. Armes, deutsches Volk!


Dann fahren wir das herrliche Nahetal wieder herauf über Idar-Oberstein bis Heimbach. Die Regenwolken lichten sich etwas und der Zauber westdeutscher Landschaft rührt uns alle ab. In Heimbach noch einmal rangieren, dann steigen wir in Baumholder aus. Kühle, herbe Gebirgslandschaft. In der Einsamkeit wirken die grauen Bauten in preußischem Stil am Bahnhof als eisiger Vorklang. Die Nacht sinkt schon, als wir vom Bahnhof abmarschieren in eine kahle Hügellandschaft, über die der Wind geht. Großräumig ist dort die moderne Kasernenanstalt aufgebaut, die kalten, zweckhaften Maße der Planung und der Mannschaftsbauten liegen verschlossen und verhüllt im Grau der Nacht. Wir sollen im Dorf Aulenbach, das noch zum Truppenübungsplatz gehört und zum großen Teil evakuiert ist, untergebracht werden. Nach einigem Suchen finden wir die für uns bestimmte Baracke, richten uns ein und erledigen das Notwendige, das dieses Leben so primitiv gliedert: Essen und Waschen und sinken auf kargen Betten in tiefen Schlaf, wissend, daß wir wohl noch lange auf diese Weise reisig sein werden und daß dies ein großer, kostbarer Vorteil ist. Ich muß noch erwähnen, daß Wm. R. im Grunde ein sehr patenter Kerl ist, der innerlich die gleichen Interessen hat wie wir, nach außen sich wohl ein wenig in Militarismus gefällt, sonst aber sehr energisch, vernünftig, antsändig und zielbewußt handelt. Er ist Schwabe, burschenhaft-gutmütig, ein wenig durchtrieben, aber nicht hinterlistig (kleine, blaue, etwas stechende Augen) und in seiner körperlichen Erscheinung herb und angenehm, sehr fern aller sentimentalen und intellektuellen Zweideutigkeit. - (Durch die dünnen Holzwände tönen die Songs von Lepel und H. zur Gitarre, während ich dies am 4.9. schreibe.)

Auf der Fahrt sprach ich mit Leesch u.a. über das Schicksal der französ. Regierung, die, wie es ja vor 14 Tagen offiziell hieß, in eine kleine Stadt im östlichen Frankreich übergesiedelt sei. Es stimmt also nicht, daß Pétain in Vichy verblieben sei, wie mir Franzosen noch in Lyon erzählten. Inzwischen soll nun aber alles, was sich von der Regierung nach Belfort begeben hatte, nach Deutschland überführt worden sein in Schutzhaft, der Gewalt gehorchend. Auch die belgische Königsfamilie soll sich ebenfalls in Deutschland befinden - merkwürdig - diese unverfrorenen Präventivmaßnahmen 5 Min. nach 12! Laval soll vorher in Nancy mit Herriot, der dort in einer Nervenheilanstalt sein Leben hat fristen müssen, eine Zusammenkunft gehabt haben und mit ihm über die Möglichkeit der Einberufung einer französischen Nationalversammlung in Paris und Fühlungnahme mit de Gaulle und den neuen Kräften gesprochen haben. Natürlich hat auch er ein Doppelspiel betrieben, doch hat er leider - aus innerer Neigung? - die eine Seite zu stark belastet und ein Hinüberwechseln jetzt in letzter Minute wäre ihm vielleicht doch zum Verhängnis geworden. Er hat der deutschen Polizei zu untätig zugesehn während der Zeit der Besatzung. In Frankreich muß man eben bei allen Umschwüngen mit den Kräften aus der Tiefe rechnen und mit einem heftigen Bedürfnis nach sichtbarer Vergeltung. Und Stoffe, die zur Explosion drängten, hatten sich genügend angesammelt. Über die Frage: Wie verhält sich eine Regierung der Besatzungsmacht gegenüber, die alle Mittel in der Hand hält? kann man endlos und grundsätzlich diskutieren. Frankreich hat sich richtig und würdig verhalten -
 
3. September 1944. Sonntag
 
Wir schlafen uns aus, bringen unsere Sachen in Ordnung und spitzen aufmerksam die Ohren, um die geringsten Schwankungen unseres Schicksalsbarometers wahrnehmen zu können. Es ist das nicht nur Neugier und Sensationslust, sondern Existenzsorge. Fliegeralarme treiben uns ins Freie, wo uns der weite Blick über die Gebirge (wir sind fast 500 m. hoch) erfreut. Schon am Vortage wollten einige auf einem Bahnhof ein paar Leute des Vorkommandos der Abtlg. gesehen haben, die ihnen erzählt hätten, daß die Abtlg. auf ihrem Marsche von Tieffliegern angegriffen und völlig verstreut worden sei. Ähnliches wird wieder neu erzählt, 2 Kp. seien mit der Bahn gefahren und die anderen würden nun in kleinen Trupps Baumholder zu erreichen suchen. Doch bald erweist es sich, daß der ganze Roman aus der Luft gegriffen ist. Einer in der gleichen Gegend marschierenden Einheit soll dieser Zwischenfall passiert sein. Die Dolmetscher treffen im Laufe des Tages wohlbehalten ein, jedoch hatte ich beim Abrücken aus St.Avold schon festgestellt, daß ihr Aufbruch reichlich überstürzt und unter Vernichtung und Zurücklassung von sehr viel Material vonstatten gegangen ist. - Die Einheiten, die außerdem noch in diesem Dorfe liegen, gehören zu einem Regt. 999, einem Strafregiment, das sich aus Zuchthäuslern zusammensetzt, wie einer ganz fremütig erklärte. Als politische Sträflinge (viele haben eine Physiognomie, die allerdings auch auf anderes schließen läßt) seien sie bis zu diesem Frühjahr wehrunwürdig gewesen, dann aber eingezogen worden. Sie tragen keine Achselklappen.


In der Nacht (oder Vormittag?) ist auch das Nachkommando aus Nancy eingetroffen. Sie haben im letzten Augenblick die Stadt verlassen, als die All. bereits auf Pont-à-Mousson vorstießen. In Nancy sei kein einziger Soldat mehr zu sehen gewesen (wie passt das zum Gedanken der Verteidigung der Stadt? - Aber die Truppen waren wohl vor die Stadt gerückt und werden sich in das Verteidigungssystem der Front eingegliedert haben), hinter haben man die Brücken gesprengt und in Maxéville sei bereits das Maquis lebendig geworden. Als man St.Avold verlassen habe, habe die Stadt bereits in der Reichweite der feindl. Artillerie gelegen, die sich einzuschiessen begonnen habe in dieser Richtung. Dann aber sei tatsächlich der Vormarsch vor Metz zum Stehen gebracht worden und die Stadt wieder mit den schon evakuierten Truppen besetzt worden - eine Nachricht, die auch hier bekannt wurde und die das dt. Communiqué dann bestätigte. Einen LKW hat man - quasi gentleman like - einem gutmütigen Franzosen abgehandelt, der sie bis St.Avold begleitet hatte. Er wird uns zum Gepäcktransport sehr nützlich sein. - Mit Köln sucht man Verbindung und erfährt, daß der Spieß endlich angekommen ist. Sonst von dort nichts Definitives. Wir erfahren aber schon, daß wir hier nicht bleiben können, der Platz wird benötigt. Alles liebäugelt mit dem Gedanken: Mitteldeutschland. Auch Köln als Standort taucht auf. Werden uns die Zivilisten, deren Egoismus auf der Hand liegt, die aber durch uns doch einzig leben, die Stange halten? Gott sei Dank sind Lt. G. und Wm. R. Leute, dieDiplomatie und Energie Genug besitzen, unsere Rechte zu verteidigen. Das F.A. muß aber die Initiative ergreifen.

Mittags endlich mal wieder warmes Essen, wenn auch schmal. Man läßt uns sehr unsere Ruhe, wirklich eine Luxuseinheit. Wm. R. wünscht sich ein Dorf zum Standquartier bis zum nächsten (?) Einsatz. Wir müssen möglichst unbemerkt bleiben. Es erreicht uns das Gerücht, Finnland habe Waffenstillstand gemacht, im Norden Frankreichs liege das Schwergewicht bei Donai, während in Lothringen vorübergehend ein Stillstand eingetreten sei: alles bestätigt der Wehrmachtsbericht. Der Kreis schließt sich immer enger. Die Russen stoßen über die Karpathenpässe nach Ungarn vor. Das Kommißleben hier läuft unerschüttert in alten Bahnen. Abends ein wohltuender Spaziergang in die Natur, Rau und ich bemühen uns, im kleinen Br. geistige Widerstandskräfte gegen sein dauerndes Zurückfallen in den Daseinsprimitivismus des Kommiß wachzurufen. Er hat große Anlagen, ist aber zerrissen und kennt sich selbst nicht, hat Angst vor der Einsicht in seine eigene Tragik: Opfer eines 7-jährigen Kasernen- und Soldatenlebens zu sein. Schicksal einer Generation eines schuldhaften und doch zu Großem befähigten Volkes. - Auf der letzten Fahrt winkten uns die Menschen oft zu. Rätselhaft! Freuten sie sich, Menschen, die nicht zum letzten Aufgebot gehören, heimkehren zu sehen als einen Hoffnungsstrahl in der Finsternis, war es Gedankenlosigkeit und gewohnte Geste oder letzter Gruß an solche, die, dem Zwange des Kriegsgesetzes gehorchend, ihre letzte vergebliche Fahrt antraten (denn wir fuhren ja teilweise in Richtung Front) oder dachten sie an ihre Angehörigen, an das ewig-gleiche Schicksal der Männer eines Volkes im Kriege, egal, ob es zu Sieg oder Untergang führt? Oder hatte der kleine Junge recht, der uns in den Wagons liegen sah und rief: Das sind Verwundete? Verwundete - auch das...
 
September 1944, Montag
 
Es wird dauernd von Abmarsch gesprochen. Es scheint sehr schwierig zu sein, sich mit den örtlichen Dienststellen zu einigen. Man nimmt sich heraus, uns als traurigen Haufen zu bezeichnen. Verpflegung und Unterkunft machen Schwierigkeiten. Zu allem Überfluß kommen dann der Major und der Chef der 1.Kp. der Abtlg. (von letzterem sagte jemand: er scheint noch nicht geschlechtsreif zu sein und hat schon über das Schicksal von mehr als 100 Menschen zu bestimmen) zu Wm. R. und wollen eine wahrscheinlich in der Zeit unserer gastlichen Beherbergung in St.Avold in der Komp. vorgefallene Unregelmäßigkeit (Verlust von einigen Flaschen Cognac?) uns zur Last legen, was Wm. R. als ziemlich starke Zumutung zurückweist. Das ist eine typische Unverschämtheit, allein aus der allgemein unsicheren und brüchigen Militärmoral heraus zu verstehen. Lt. Gr. meint dann auch, daß wir auf alle Fälle versuchen müssen, von der Abtlg. loszukommen. Es heißt dann plötzlich, wir kämen nach Erfurt. Typischer bobard. - Nachmittags hören wir dann ein ausgiebiges Telefongespräch zwischen Lt. Gr. und der Kölner Stelle. Lt. Gr. betont, daß wir in B. nicht bleiben können und daß uns das F.A. in Übereinkunft mit Breslau einen endgültigen Standort zuweisen sollte und zwar östlich des Rheins, um den Schwierigkeiten, die in einem Gebiet wie dem hiesigen, das sehr bald Operationsgebiet werden kann, aus dem Wege zu gehen. Dann hören wir noch ein anderes Gespräch, wahrscheinlich mit einem Offz. der Standortkommandantur, über die vorläufige Verlegung nach Namborn, Kreis St.Wenkel. (Dieses Gespräch wurde vor dem anderen geführt.) Am folgenden Tage soll dorthin marschiert werden. - Mir beginnt der laute, vulgäre Ton in der Gemeinschaftsstube wieder auf die Nerven zu fallen. Wie gleicht sich das Milieu doch die Charaktere an!