Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


Herbst 1941 [15. Mai 1942 ?]


Viele Kirchen sah ich auf meinen weiten Reisen und bei meinen mannigfachen Märschen während zweier Kriege in Europa.
 
Die stolze gotische Kirche am Rhein, die schmucke Barockkirche in Süddeutschland, die ernste romanische Kirche Südfrankreichs, sah kleine, heimische, fast gemütliche Kapellen der Weindörfer, die neumodischen Kirchen moderner Siedlungen, die erhabenen, in ihrer Größe fast erdrückenden Dome: Nôtre-Dame, Kölner Dom, Ulmer Münster, Mailänder Dom, Liebfrauenkirche, Stephansdom - sie alle, diese Kirchen, Kapellen, Dome, Gotteshäuser, vermittelten mir das Gefühl der Erhabenheit des Glaubens, sie regten mich an zu kurzem Gebet, zu stiller Andacht, gaben mir das Gefühl einer heiteren gutsituierten Verbundenheit mit dem Jenseits, - aber überwältigt und erschüttert hat mich ihr Anblick nie. Auch fand ich die Heiligkeit des Ortes nie in ergreifendem Maße ausgeprägt, resp. ich empfand es nicht.
 
Dafür ergriff mich tief der heutige Gottesdienst in einer bis jetzt seit 24 Jahren geschändet gewesenen russischen Kirche und davon will ich erzählen.
 
In der Verfolgung der Roten betraten wir eine mittelgroße Stadt, um einige Tage zu bleiben. Der größte Teil der Häuser ist verbrannt, aus dem Schutt ragen noch einzelne Kamine hervor. Was noch steht, sind verfallene Hütten voll Ungeziefer. Das Ganze ist eingehüllt in Staub, Brand- und Verwesungsgeruch, Milliarden von Fliegen schwirren umher und vom wolkenlosen Himmel brennt die heißeste Sonne. Wenige zerlumpte Gestalten schleichen umher.
 
Drei majestätisch große Kirchen stehen noch. Vor ihnen überlebensgroße Standbilder von Lenin und Stalin (ohne Kopf natürlich). Die Kirchen sind außen vernachlässigt, und innen? - Ställe, Lagerschuppen und bolschewistische Klubs, alles verdreckt, besudelt und verschweinigelt. Wir meiden die Stadt, zelten außerhalb.
 
Heute Sonntag früh ist um 9 Uhr katholischer Gottesdienst. Er soll auf dem Marktplatze sein. Ich beschließe hinzugehen, denn nach all dem Erlebten kommt mir der Gottesdienst wie ein Stück Heimat vor, er erinnert mich irgendwie an Familie, Münsterkirche, Roastbeef mit Gurkensalat und Sonntag überhaupt.
 
Zu meinem Erstaunen ist eine russische Kirche, ehemaliges Kornlager der Bolschewisten, zum Gottesdienst hergerichtet worden. Sie ist schon voller Soldaten aller Waffen und Chargen.
 
Ein schöner romanischer Bau, die Fenster zerschlagen und die Wände von der Besudelung notdürftig gereinigt. Draußen Berge von Schmutz, den unsere Soldaten aus dem ehemaligen Gotteshaus herausfegten.
 
Ein schlichter Feldaltar, dahinter ein Kreuz aus frischen Birkenästen. Neben dem Altar auf der Erde die gefundenen zerschlagenen Heiligenfiguren mit schlichten Feldblumen, davor Dunkelfeinde als Lichter.
 
Einige halbzerfetzte Heiligenbilder, jahrelang versteckt, vergraben, mit Blumen geschmückt stehen an den Wänden.
 
Und zwischen unsern Soldaten, Russen und Russinnen, vereinzelt erst in ihren zerschundenen Fetzen, aber irgendwie festtäglich angezogen, man sieht es, sie nahmen wohl das Beste, was sie noch hatten, und starren voll Staunen in das Kerzenlicht des Feldaltares. Ich stelle mich ganz vorne hin, seitlich, kann so alles übersehen. Der Feldgeistliche, Soldat und Priester, spricht von der Austreibung der Juden aus dem Tempel. Er findet die richtigen Worte für die Soldaten und den Tag.
 
Nach dem Niederländischen Dankgebet liest er die Messe, die begleitet ist von dem nicht abbrechenden Gesang der schönen Kirchenlieder.
 
Und während wir singen, füllt sich die Kirche immer mehr und mehr. Alte Mütterchen erst, dann junge Frauen, alte und junge Männer, Kinder, alles strömt herbei, kniet andächtig nieder und bekreuzigt sich auf russische Weise (sie hatten es nicht verlernt und weitergelehrt), betet inbrünstig, schluchzt und weint und sieht verklärt auf den Altar. Und während der Geistliche weiter zelebriert, kommen sie zum Altar, zu den zerschlagenen Bildern und bedecken Altar, Bilder und Figuren mit Blumen über Blumen. Sie bringen ihre versteckt gehaltenen Heiligenbilder mit, Ikonen, Erde, auf daß alles neu geweiht werde, man legt neben den Altar die letzte Rubel, die letzten Lebensmittel, ein Jeder bringt etwas, um seine Verehrung und Dankbarkeit zu zeigen, denn der Antichrist ist ja vertrieben.
 
Und während ohne Beichte kraft einer Generalabsolution die hl. Kommunion ausgeteilt wird - an Katholik oder Protestant - wir sind ja alle Kameraden - sind wir ergriffen und stolz und erkennen, wie dieses Volk gelitten haben muß. -
 
Ich sah viele Kirchen in meinem Leben, jedoch kam mir keine so heilig vor wie diese geschändet gewesene russische Kirche beim ersten Gottesdienst. Ich sah viele Kreuze in meinem Leben aus Gold, Silber, Elfenbein, mit Edelsteinen geschmückt, doch keines kam mir so heilig vor wie dieses schlichte Birkenkreuz mitten in der UdSSR. Ich sah viele Menschen beten in meinem Leben, jedoch beteten sie so andächtig wie diese Russen nach 24 Jahren kommunistischer Erziehung und Aufklärung.
 
Am 3. August hat mich seit vielen Jahren zum ersten Male ein Gottesdienst ergriffen, in Rußland, im Kampf gegen den Bolschewismus.