Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


27. - 30. August 1944


27. August 1944, Sonntag, Nancy
 
Mittags Alarm, kein Essen, Wache am Wagon. Abends im Liche einer von Wolken abgeblendeten Sonne das bezaubernde Palais und der wunderschöne Stanislas-Platz. An Wolfgang denken müssen, der diese Kunst so liebte. Wie erschüttert mich sein Schicksal. Gegessen in einer kleinen miserablen Kneipe Chez ma tante. Soldateska, in der Nähe Bordelle!
 
28. August 1944, Nancy
 
12 Leute kommen am Nachmittag nach Thorey, dem Schloß Lyauteys, ca. 40 km südöstl. Nancy. Mittags endloses Suchen nach einem Restaurant in der völlig überfüllten Stadt, die immer mehr Flüchtlinge aufnimmt. Teuer und schlecht gegessen in der brasserie universelle. Nachmittags noch verladen in den Wagon, der nach Köln gehen soll und mit dem unser Wm. in Urlaub fährt, mit ihm Unger und Caspers. Abends mit Höhn im Charles V ganz gut gegessen. Sehr widersprechende Gerüchte über unser Schicksal und unseren Verbleib in N.
 
29. August 1944
 
Am Vormittag verbrenne ich unheimliche Mengen von Papier. Dieser Papierkrieg in den Schreibstuben, diese unglaubliche Pietät vor der Unterschrift und dem Dienststempel, diese Verschwendung von Kraft an das Unwesentliche, diese Hybris an Ordnung und Organisation! Bedenkliche Gerüchte bezügl. unseres Verbleibens, der neue Stadtkommandant, ein Fallschirmgeneral, will uns - das alte Lied - nicht fortlassen. Lt. Gruhn fährt nach Verdun zum Hönafü, Gen. Oberhäuser. Nachmittags noch manche mehr oder minder wichtige Arbeiten, dann wieder endlose, erfolglose Suche nach Essen. Schließlich bekommen wir etwas im Kameradschaftsheim, sehr schlecht. Als wir zurückkommen, ist die Komp., der Rest, der kaum eines der mir lieben Gesichter aufweist, zurück. An dem, was ich sehe, erkenne ich das Prinzip der Auslese. Ein Appell; Sachen sollen abmarschfertig gepackt werden, es könne in der Nacht noch losgehen! Unnütze Steigerung der Nervosität. Wache. Sehr müde. Auf 10 Passanten in der Stadt kommen ca. 8 Soldaten.
 
30. August 1944
 
Früh um 5 Uhr aufstehen. Großes Verpacken und Verladen; das Dienstgepäck aus Lyon, Paris, Marseille usw., das gerettet werden konnte, ist am Vortage, nach längerer Verzögerung, nach Köln gebracht worden, wobei sich unsere Zugwm. einen 3 wöchigen Urlaub organisierte, was die entsprechenden Kommentare hervorrief. Unger u. Caspers fuhren gleichfalls mit. Vielsagende, spöttische, höhnische, schadenfrohe Mienen der Bevölkerung. Nancy, Hochburg des französischen Nationalismus, birgt genügend Kräfte, um ähnliches Gericht zu veranstalten wie Paris. Bei jeder französ. Revolution war ja der Pöbel stark beteiligt, daraus hätte man lernen müssen. Überall große Aufbruchszenen, viele durchfahrende, auf dem Rückzug befindliche Einheiten. Hunger nach bobards, der teilweise befriedigt wird, weil die eigentliche Gefahr für uns, das Verbleiben in N., gekannt ist. Bestätigt von deutscher Seite nur Châlons. Stoßrichtung auf Verdun, aber auch weiter südlich von St.Dizier weiter ostwärts. Es wurde noch ein Hammel gebraten, den die Komp. von Thorey mitgebracht hatte und um 10 Uhr verteilt. Wm. Paepcke bemüht sich mit heller, langgezogener Stimme und umständlich genauen Befehlen um Ordnung und Planmäßigkeit, umgeben von den beiden neuen Trabanten. Dann marschieren wir mit vollem Gepäck, gebeugtem Rücken und erleichtertem Herzen zum Bahnhof, wo beim Einsteigen wieder großes Durcheinander herrscht. Der LKW wird entladen und die schweren, meist nutzlosen Kisten in den Abteilen verstaut. Vor dem Bahnhof strömen die Wagen zusammen, mit Soldaten und Frauen, die bleich und froh zugleich sich in Sicherheit bringen wollen. Gegen 13 Uhr setzt der Zug sich in Bewegung.


Es heißt zuerst, wir fahren bis Trier, dann aber soll es nur bis Metz gehen. Ich schlafe ein wenig, man ist sehr abgespannt, dann aber lasse ich mich mit meinen Mitreisenden in eines der typisch zögernden Landsergespräche ein, hinter deren andeutenden Worten geistige Erlebnislandschaften auf besondere Weise lebendig und fühlbar werden. Ein junger 21jährg., schon verheirateter Infanterist, dem ein Kamerad mit hübschem, durch den Krieg leicht vergröbertem Gesicht gegenübersitzt, sucht seine versprengte Division. Sie tragen zusammengewürfelte Uniformen. Besonders der neben mir ist kriegsmüde, nicht aus Überlegung sondern aus dem Überstandenen, Erlebten heraus, während sein Kamerad noch kindlicher, naiver ist. Sie haben in Melun gekämpft, ohne schwere Waffen. Als die Amerikaner sich näherten, habe es aus allen Fenstern geschossen. Das sei eine Gemeinheit, man habe doch mit dem eigentlichen Feind genug zu tun! Recht hat er, weiß Gott. Während der Straßenkämpfe seien die Franzosen munter auf den Straßen umhergesprungen, auf die Gutmütigkeit der Deutschen (ja, das sind alle die, die die Mentalität dieses jungen Mannes haben) und die Großzügigkeit ihrer Befreier rechnend. Auch die Offiziere seien völlig matt und kriegsmüde. Ich unterstütze ihn in seinen Überzeugungen und suche seinen Blick zu den wesentlichen Gründen der Katastrophe hinzulenken. Es hat etwas Vertrauen- und Hoffnungerweckendes, Soldaten mit dieser Einstellung zu begegnen. Auch ein älterer Nachrichtenmann, Sachse, zufällig auch aus Lyon kommend, weiß mir von erschreckenden Krebsschäden in den dortigen Stäben zu berichten, hat seinen klaren Verstand behalten und empfindet die Konsequenz des Geschehens. Bei ihm durften nur die Offz. ihre Butter im Eisschrank aufbewahren. In anderen Abteilungen saßen dann wieder Leute, die nur von ihren Schiebergeschäften während der 4 Jahre französ. Besatzung sprachen. Habenichtse im Paradies, würdelose Marodeure.

In Metz sieht man die Menschen mit Gepäck die Stadt verlassen, soweit es mit den wenigen Züge möglich ist. Die Schuld des Exodus wird uns jetzt heimgezahlt, die wir unrechtmäßig vom Boden fremder Geschlechter Besitz nahmen, unsere Blut-und-Boden- bzw. Rassentheorie als Propagandalüge entlarvend. Mit dem Saarbrückener Personenzug fuhren wir dann nach St.Avold durch die hügelige, weitzuüberschauende, klarlinige Landschaft Lothringens. Die Baumzeilen, landschaftliches Charakteristikum Mittelfrankreichs, gehen mehr und mehr in geschlossene Waldbestände über. Spätsommergrün leuchtet unter limpiden blassen Farben des Abendhimmels. Überall, mehr oder weniger gewaltsam, deutsche Benennungen der Orte. In dieser Gegend verläuft, unsicher und im Geschehen der Jahrhunderte vielfach verzackt, verzahnt und eingerissen, die Sprachgrenze. - In Nancy hatte sich übrigens der Spieß mit dem Vorkommando verabschiedet und war mit dem Pkw vorgefahren. Als wir in St.Avold ausstiegen, leuchtete der Mond schon. Die Landschaft erinnerte an den heimatlichen Westen, die Eifel - sie ist ja ein Teil davon. Dann wieder typisches langes Warten auf der Straße, ehe man Fühlung genommen hatte wegen der Unterbringung und allen damit verbundenen Notwendigkeiten. Die Dunkelheit fällt ein, es kommt Fliegeralarm. Ausgerechnet dann begann man mit der Aufteilung der Verpflegung! Der Soldat wird das Planen seiner Vorgesetzten in besonderen Verhältnissen wohl nie verstehen, denn allem Planen auf preussischer Grundlage liegt ein gewaltsames Element zugrunde - auch wenn es sich um geringste Nebensächlichkeiten handelt. Das Handgepäck wird schwer, denn es sind gute 3 km zu den Kasernen. Das Städtchen liegt weit vom Bahnhof entfernt, erscheint uns aber im Mondlicht, umgeben von dunklen, bewaldeten Bergzügen, mit seinem intimen Marktplatz und barock konturierten Häusern recht malerisch. Es wird uns ein vorläufiges Notquartier im feuchten Luftschutzkeller einer Kaserne. Tiefster Schlaf.