Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


Ein Erlebnis im Osten - 3. August 1941


Schaurige Rodung! Bisher ein stiller Stützpunkt, nun übergeifert von tausendfältigen brutalen Giftgelüsten des Krieges, der uns Ungewohnte skelettkalt und eisenglühend in seine erste Umarmung reißt!
 
Vom letzten Dorfe schlängelt sich der Weg in die naßkalten, erloschenen Wälder, ein russ. Weg, bestehend aus der zähen Zementmasse aufgeweichten Schlammes, mit welkem Laub durchsetzt. Nebel und Sprühregen umhüllen die Trostlosigkeit und dringen durch die filzigen Uniformen. Noch wärmt uns die Wohnhöhle einer erbärmlichen Bauernkate, nur die Wärme des klobigen Backsteinofens macht sie zum Aufenthalt für Menschen. Vor den Fenstern zerfetzte Papiergardinen, aus dem bunten Fleck an der schmutzigen Wand grellt das Bild einer Frau zwischen Papierblumen: letzter Tropfen sowjetischer Kulturausscheidung, für diese dumpfen Wesen ein Brocken geschändeter Schönheit des Lebens der Welt. Blasse Kinder in Lumpen kauern in einer vom spärlichen Licht des Tages kaum erhellten Ecke, flüstern gedrückt und richten scheu die leeren, stumpfen, aber noch von einem Abglanz kindlich-naiver, offener Schaulust erfüllten Augen auf uns Wundertiere.


Gebückt und ausdruckslos tastet die Frau mit ihren ärmlichen Verrichtungen zwischen uns her, und wenn ihre Haltung noch Willen verriete, so wäre es nur der Trieb, sich allem auszuliefern, was da Unbekanntes und Drohendes von ihrem Lebenskreis Besitz ergreift. Sie besitzt nichts von dem nationalen Instinkt, der Haltung und dem stolzen Sein, auch in tiefster Erniedrigung, die dem Feind noch einen Zoll Achtung vor dem Schicksal des fremden Volkes abnötigen und ein ur-menschliches Gleichheitsgefühl als Vorbereitung zu einem Verstehen auf der neuen Ebene der von ihm geschaffenen Tatsachen aufkeimen lassen. Die Kluft bleibt - sie rettet einen jeden in den Bereich, in dem er existieren kann, und ich sehe von meiner Höhe in die unfaßliche Seelenniederung und die in fremder Selbstwollust anerkannte Daseinssklaverei, von der das Bewußtsein dieser Wesen selbst angenagt scheint, daß es sie hinnimmt ohne den Drang zum Ausweg, ohne die Fähigkeit, eine allen Menschen geschenkte Würde der Natur auch nur zu ahnen. Totenacker einer gott-, welt- und lebensfeindlichen Staatsmaschine, emporgegeilt aus den vom Eiter des Urbösen zersetzten Gehirnen asiatischer Menschen, die die Nabelschnur der Erde zu Gott hin zu zerreißen trachteten. -
 
Unter der Belastung von Waffen und Gepäck kämpfen sich Mensch und Maschine tiefer in die Wälder, in zäher Wut dem klebrigen Schlamm trotzend, in dessen schleimigen Krakenarmen sogar die alles überwindenden Raupenfahrzeuge mit rasenden, keinen fortbewegungsgünstigen Widerstand findenden Bändern zu erlahmen drohen. Schweiß und Feuchtigkeit von außen schwelen zwischen den Kleidern. Dann taucht, farblos, gestaltlos, in Nebelmilch und Regengallert dünstend, das Dorf aus dem sich öffnenden Walde. Die Häuser tragen keine Spuren des Kampfes mit Feuer und Eisen und Gelände und Wege hätten jeden Trichter im formlosen Schlamm längst verwischt. Um die herdenartig zusammenkriechenden Blockhütten zieht sich halbkreisförmig ein 80-100 m. breiter gerodeter Streifen Ödland, dann beginnt dichter Laubwald. Keine Bewegung, kein Laut sonst, nur das Geschiebe, Stampfen, Malmen der vormarschierenden Truppe, gleich einer Raupe sich dehnend.


Hier und da schwirrt ein Befehl, ein Fluch - das gedämpfte Gespräch, mühsam geführt zwischen den Zügen an Cigarette und Pfeife, versickerte in das wesenlose Grau von Nebel und Schmutz, einzige Farbe dieser Welt. Nur das dumpfe, röhrende, aufbegehrende Summen der Motoren behauptet sein Dasein beharrlich in diesem stummen, doch innerlich erregten, geballten und entschlossenen Marsch in die Stellung. - Noch leuchten die Zähne und Gesichter, schon schweißig, doch noch nicht von Schmutz und Todnähe gegerbt, es leuchten helle Flecken bunter Hals- und Taschentücher, es leuchten die Augen aus den Scharten der stählernen Helene, unter denen sich Ringe zu zeichnen beginnen, in einem harten, begehrlichen Feuer, die nackte Seele aus sich sprühend, überwach und doch noch gehüllt in eine letzte schleiernde Trübe. Die Hände sind mager, zeigen Poren, Adern und Sehnen, sind griffentschlossen im Umgang mit den geschulterten Waffen. Und unter dem Tuche strafft sich der Leib, er beherrscht die starre Uniform und zwingt sie in die Linie und Form seiner tätigen Muskeln, deren Spiel das Zwecklose nicht mehr kennt und deren An- und Abschwellen unter schweißiger, behaarter Haut als kraftvolle Wchheit der Leiber, auf die bald ungeheure Last fallen wird, in der Bewegung von mir erahnt wird.
 
Mein Körper versagt mir diese Bewußtheit, überhaupt eine Bewußtheit, in der ich mich selbst prüfen könnte. Im ungewissen Vorgefühl des Kommenden bin ich nur beseelt vom Bewußtsein der Pflicht, aber der Anblick der anderen, wie sie unbewußt alle Kraft und seelische Sammlung zur Schau tragen, erfüllt mich mit Sicherheit und Glauben. - Der Himmel dampft auf dieses Stück Erde von fast urzeitlicher, aber erbärmlicher Anonymität. Feuchte rieselt von den Stahlhelmen. Zur Seite fällt mein Blick auf armselige Gartenstückchen, zur kümmerlichen Daseinsfristung mit Kartoffeln und Kohl angebaut. Die Kohlköpfe zwischen den Strünken zeigen Spuren der Fäulnis. Ein schütterer Stakettenzaun umschließt das Ganze, ohne den Sinn der Umfriedung, das Gefühl trostlosen Ausgeliefertsein noch vermehrend... -
 
Es kam mir eigentlich lächerlich und zwecklos vor, das Häuschen, das unsere Staffel bezog, bis in die Einzelheiten von Geschirrteilen, die noch an die russ. Eigentümer erinnerten, vor Schmier und Schmutz der Vorgänger zu reinigen, als erstrebe man nicht dauernde Frontbereitschaft sondern mehr Besatzungsmuße. Aber der eigendeutsche Trieb zur Reinlichkeit und der potenzierte Trieb militärischer Vorgesetzter, die die Kaserne in den Urwald zu verpflanzen trachteten und deren noch von der Erinnerung an die Befehlsgewalt der Kaserne steifes und intaktes Rückgrat noch immer keinen erfreulichen Knacks zeigte, ließen das Beginnen nicht in der Vorrabeit stecken [bleiben].- Allenthalben richtete man sich ein - noch völlig ahnungslos und unberührt von dem Begriff: Stützpunkt im russ. Sumpfwald, und mit einer gewissen Neugier wartete alles auf die erste kriegerische Äußerung des mystischen Gegenübers.
 
Vorne - das war der Bahndamm, der gen Norden das Dorf und die große gerodete Blöße abschloß und hinter dem bald wieder der undurchdringliche, ewige Wald begann; aber die Verteidigungsstellungen umschlossen kreisförmig das Weichbild des Dorfes mit dem Gesicht zum Wald hin und passten sich nach rückwärts dem aus dem flachen, bachdurchflossenen Waldtale herführenden Schlammweg eine kurze Strecke an, immer mit der Front zum Wald, der dort nicht ganz an den Weg heranreichte und die breite Wiesensohle wechselnd einschränkte. -
 
Der Befehlsapparat wurde emsig in Funktion gesetzt, ein Funktrupp schuf die Verbindung mit der Außenwelt und die durch die Ablösung bedingte allseitige Tätigkeit ebbte ab und verwandelte sich in eine abwartende, von Nervosität untergründig bedrängte Ruhe, die nach sichtbarem Ausdruck strebte in der Verpflanzung kasernenmäßiger Regelmäßigkeit an eine scheinbar ruhige Front. Durch Witze suchte man sich ein Gefühl der Sicherheit und Gefahrlosigkeit zu ertrotzen. - Im nächsten Morgengrauen sollte ein stärkerer Spähtrupp gegen den Feind vorgehen. Dann würde man ja sehen... Doch erklangen nachts und am nächsten Vormittag in den Gründen der Wälder Schüsse, die ihr Gepeitsche selten zum Gewebe eines kurzen Feuergefechtes verdichteten.
 
Und dann blieben wir stehen und schauten erstaunt und verwirrt und wie von ungeheurer Ahnung gestreift, als aus den das Dorf umschließenden Wäldern einzelne Schüsse wie giftige Stechmücken über das Dorf und die Rodung, die in friedlicher Herbstsonne selbstvergessen und in tiefer, nur von unserem vorsichtigen Tun belebter Einsamkeit dalag, hinsurrend in den Boden peitschten. Da war plötzlich in mir das Gefühl, als könne sich nun das Ungeahnte aus dem Boden dieser Ruhe, die nun unheilgeschwängert und -angefüllt schien, blutig und erschreckend, unter dem Schrei der Waffen und der zerrissenen Leiber, gebären. Und ich kämpfte um Gelassenheit - das taten alle - aber sie trugen alle die Spur der Ahnung unverwischbar im Gesicht, als sie die Spaten in den Boden stießen.