Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


Mai 1945


19. Mai 1945. Gefangenensammellager b. Erding
 
Heute bin ich etwas aus der Lethargie erwacht, in die mich die Ereignisse der letzten Tage, die Hitze und Primitivität versetzt hatten. Es besteht die Hoffnung, daß ab Pfingstmontag wieder Entlassungen durchgeführt werden. Es heißt, daß alle von den Amerikanern, Engländern und Franzosen besetzten Gebiete für die Entlassung freigegeben sind, während die Russen sich auf die Oderlinie zurückziehen sollen und das Gebiet zwischen Elbe und Oder als neutrale Zone vorläufig noch gesperrt bleibt. Es wäre sehr erfreulich, wenn sich das bewahrheitete und so auch bei den Russen ein Nachgeben zu verzeichnen wäre. Welch ein Ende! Nun sitzt man auf der Straße, im wahrsten Sinne des Wortes. Mir schien es günstiger, d.h. meine Unentschlossenheit tendierte schließlich dahin, mich nach Köln entlassen zu lassen, obwohl ich nicht weiß, wohin ich dort soll, aber ich möchte tatsächlich lieber im Rheinland bleiben. Natürlich werde ich dann sofort zu Mutti gehen, von der ich seit Febr. nichts mehr weiß. Wie es allerdings mit dem Reisen werden wird, ist eine große Frage, alle größeren Verbindungen werden noch auf längere Zeit unterbrochen sein. Aber nur erst aus dem Lager mit seinem dumpfen Brüten, seinem Massengeist, den letzten Nachwirkungen des Militarismus, dem Nummerndasein usw. heraus! Gefangenschaft ist erst dann erträglich, wenn man sich eine individuelle Position in irgendeiner Form geschaffen hat. - Ich will kurz in der Schilderung der letzten Tage meines Soldatenlebens fortfahren.


Nachdem wir uns seinerzeit in Augsburg in Privathäusern erfrischt und ausgeruht hatten, begaben wir uns auf die Straße und erwischten einen fabrikneuen Omnibus. Der Fahrer behauptete in die Nähe von München zu fahren, aber es stellte sich bald heraus, daß er entgegengesetzte Richtung nach Aichach fuhr und daß der Wagen alles andere als fahrbereit war. Alle paar hundert Meter blieb er stehen, die Bremsen blockierten, geheimnisvolle Defekte im Motor, sodaß wir für die 30 km einige Stunden brauchten und schließlich das letzte Stück zu Fuß gingen. In Aichach wieder langes Warten. Streifen durchkämmten die Straßen und Häuser nach verborgenen Soldaten. Jungens, noch halbe Kinder, hübsch und gesund, stolzierten in ihren SS-Tarnanzügen umher und waren sich der tragischen Situation, in der sie sich befanden, nicht bewußt. Diese naive Freude an der Uniform, dieses nationale Laster. Sie sollten also das letzte Schlachtvieh der wahnsinnigen Despoten, die längst in einem Bergwinkel Zuflucht gesucht haben, werden. - Schließlich nahm uns ein Lieferwagen ein Stück in Richtung Dachau mit. Außer uns befanden sich 3 Frauen aus Österreich auf dem Wagen, die man aus politischen Gründen ins Zuchthaus in Aichach eingesperrt hatte. Alle wußten seit Monaten nichts von ihrer Familie, waren einfach ohne alle Mittel auf die Straße gesetzt worden und suchten nun guten Mutes so schnell wie möglich die österreichische Grenze zu erreichen.

In einem kleinen Dorf wurden wir abgesetzt und in den Gutshöfen forderten wir einen Imbiß. Es war Abend, und wir marschierten ein Stück Weges in der gelben Beleuchtung des Sonnenuntergangs, bis uns ein kleiner Wagen mit 2 SS-Leuten in wilder Fahrt bis Dachau brachte. Dort versuchten wir einen Zug bis München zu bekommen, aber der Bahnhof war durch Fliegerangriff beschädigt, der Zug stand irgendwo auf dem Gleise, es wurde dunkel, und so machten wir dann Nachtquartier an der Hauptstraße nach München. Wöhrmann und ich fanden sehr nette Unterkunft bei einem Professor der Münchener Techn. Hochschule, der hierhin evakuiert war und einer anderen Familie. Der alte Herr mit überscharfem mageren, verwitterten Gelehrtenkopf - ein Grübler - wie man sofort feststellen konnte, trug uns dann aus Versunkenheit einige sehr eigenwillige Gedanken zur Weltkatastrophe aus dem Blickwinkel des Architekten vor: die Zerstörung der Städte, überhaupt der historischen Stadtkultur, sei ein neuer Hereinbruch der Elemente, die die historistischen Jahrhunderte vernachlässigt und schließlich verachtet hätten. Es sei ein metaphysischer Naturvorgang, der Licht, Luft usw. wieder in seine Urrechte einsetzen und den Menschen auf diese Weise (auf eine sehr gewaltsame allerdings) wieder in eine natürliche Lebensordnung zurückführen wolle. Man müsse, wie in Rußland, endgültig Schluß mit der Vergangenheit machen. Auch die monströsen Stadtgebilde Amerikas würden eines Tages verschwinden. - Die Gedanken waren sehr originell und zweifellos aus langem Denken und tiefer Erfahrung erwachsen, aber keinesfalls für mich akzeptabel.

Am nächsten Morgen (24. April) trafen wir nach 15 Min. Warten einen LKW mit dem milchgesichtigen Lt. Klink, mit dem wir dann nach München fuhren und von dort aus weiter nach Buchbach. - Erschütternd war die Begegnung mit der gleichfalls grausam zerstörten, dennoch aber noch sehr lebenden Stadt. Café Luitpold kündete sogar seine Wiedereröffnung im Keller an! Auf dem königl. Platzt spürte man: das Ende der Nazi-Epoche war gekommen, obwohl diese Bauten eigentlich am wenigsten getroffen waren. - Auf der Straße nach Mühldorf nahmen wir alle möglichen Fahrgäste auf: Flieger, gut aussehend und ebenso ausgerüstet, Ungarn, Zivilisten usw., alle ergeben in das unvermeidliche Schicksal. Vor Haag bogen wir nordöstlich ab nach Dorfen und erreichten dann Buchbach. Die Verlegung war übrigens nicht ohne Zwischenfälle abgelaufen, ein Fahrzeug mit Benzin und Gepäck war einem Tieffliegerangriff zum Opfer gefallen.
 
Pfingsten, 20. Mai
 
Gelähmtes Warten, quälende Sinnlosigkeit des Lebens, quälende Einsamkeit und ein Nichts vor uns als Zukunft. Man erlahmt, besitzt keine Energie, irgendetwas zu beginnen und was sollte man auch tun? Man denkt und grübelt und träumt von einer Vergangenheit, die niemals mehr Wirklichkeit werden kann. Jedem geht es so und jeder empfindet es doch anders. Keine Heimat mehr, keine Zufluchtsstätte, an der man für sich mit denen leben kann, die man liebt. Kein Eigentum mehr, ja kaum noch Kleider, mit denen man seine Blösse bedecken kann. - Ganz auf die Gnade fremder Menschen angewiesen, die man um ein Stück Brot anbetteln muß. Und das nach 6 Jahren des furchtbarsten Krieges, den die Weltgeschichte je erlebte. Gewiß, es ist ein Wunder, daß man lebt, eine Gnade, für die man Gott nicht genug danken kann. Das Wort der Herrnhuter Losungen für den heutigen Tag ist von wundersamer Aktualität und die Predigt des ostpreußischen Pfarrers heute morgen unter grau verhangenem Himmel war von starker, wohltätiger Eindruckskraft. Ungefähr 500 Menschen wohnten dem Gottesdienst bei, das starke religiöse Bedürfnis der Beladenen und Bedrückten, zu denen wir alle gehören, kann sich nun wieder ohne Beschränkung äußern. Möge Gott mir nach der Zeit der Züchtigung einen Weg weisen, den ich gehen kann!