Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


21. - 24. August 1944


21. August 1944

Um 14 Uhr begeben wir uns mit der letzten Fuhre zum Bahnhof, Früchte, Lebensmittel und letztes Gepäck mitführend. Kurzer, indifferenter Abschied im Hotel. Die gute, anglophile und durchtriebene M. sieht uns nicht gerne scheiden, sie versicherte glaubwürdig, daß sie es lieber gesehen hätte, wenn die Amerikaner uns in Lyon überrascht und vom Kriege erlöst hätten. - Die Sonne glüht, der Bahnhof zeigt die nervöse Geschäftigkeit und die eigenartige Menschenmischung, die für die merkwürdigen, unterhöhlten Kriegsverhältnisse in Südfrankreich charakteristisch sind. Es knistert im Gebälk, die Mauern beginnen zu bröckeln... Ich kenne diese Militärtransporte, ihre Atmosphäre, die die Feindlichkeit hervorrufen, die eintritt, wenn an ein bestimmtes Kulturniveau gewöhnte Menschen primitiv leben müssen. - Gegen 17 Uhr fährt der gemischte Transport - unsere 3 Waggons an der Spitze - ab; der Begriff Zug umschreibt diese Art des Reisens und der Reisemittel nicht genügend. Bis Villefranche geht es eigentlich erstaunlich gut und ich äußere sogar, daß wir bei diesem Tempo evtl. in 24 Stunden in Nancy sein könnten. Doch kaum war das ausgesprochen, begann das berühmte Zögern und Aufhalten des Zuges, jene für diese Strecke und für die augenblicklichen Zustände eines sozusagen in Vorbereitung befindlichen, unter der Oberfläche schwelenden Krieges so bekannte und natürliche Art der Fortbewegung!
 
24. August 1944
 
Das Gewitter in der Nacht hat die Natur erfrischt und belebt. Der Morgen ist erfüllt vom duftenden Atem der Pflanzen. Noch verspricht der Tag nicht schön zu werden, graue Wolken am Himmel, die sich im Westen zu bösartig weißgeränderten Massen ballen. Heftiger, böiger Wind flackert auf und erst gegen Mittag siegt die Sonne, während ein erfrischender Wind von den blauen Weinhöhen des Beaujaulais über die fruchtbaren Ebenen streicht. - Gegen Mittag läßt man auch die gefangenen Frauen aus dem Wagen, während man von den Männern nichts sieht. Ihr angeborenes Reinlichkeitsbedürfnis hat sie nicht verkommen lassen und wenn auch wohl kaum eine von ihnen aus allzugesicherten Kreisen entstammt, so findet man doch manch annehmbare und wohlgeformte Physiognomie, obwohl ich sie mir kaum betrachte. Vielleicht, weil meine Beeindruckung beim näheren Zusehen schwände - unbewußte Reaktion! Sie sitzen am Rande des kleinen Baches neben dem Bahnkörper oder auf den Schienen, alle mager und bleich, aber lebhaft sprechend und gestikulierend. Manche mag ahnen, welch ungewissem Schicksal sie in der Gewalt eines den Krieg verlierenden Volkes entgegengeht. Spüren wir doch alle etwas davon, die wir eines Tages genauso tief erniedrigt werden können. Ich sah sie kaum essen. Einer ihrer Wächter sagte mir, daß das Rote Kreuz sich um sie bekümmere, aber wo existiert das noch in diesen Städten, in denen unsere Besatzungsgewalt zusammenbricht? Ich vergesse nicht, wie sie sich gestern unter dem Wasserstrahl auf dem verschmutzten Bahnhof von Châlons gewaschen haben, vor den vielen gierigen, brutalen und verachtenden Augen und den wenigen durch diesen Anblick verletzten und beleidigten. Sie hatten sich alle entblößt, soweit es eben möglich war. Die nasse, schmutziggraue Unterwäsche klebte über den mageren Brüsten und herausstehenden Schultern der Älteren, während die Jüngeren oft nicht häßlich gewachsen waren und eine gewisse Koketterie zur Schau trugen.


Solchen Situationen wird man nicht mit bürgerlichen Betrachtungen gerecht, hier steht die Kreatur nackt und erbärmlich in aller selbstverschuldeten Tiefe und schicksalgewollter Verlassenheit vor unseren Augen. Sicher, es mögen viele darunter sein, die jedem von uns nach dem Leben getrachtet hätten, die manches Böse und Üble auf dem Gewissen haben, aber haben vielleicht nicht einige von ihnen aus höheren Antrieben gehandelt? Egal, wie dem sei, man soll wohl gerade dann danach fragen, wenn einen das Erbarmen zur Kreatur als dem Wohnsitze Gottes ergreift und einen das Herz mit Gefühlen erfüllt, die man vielleicht hegen, aber nicht äußern darf. Kümmerliche Wäschefetzchen - vielleicht nur das, was sie auf dem Körper tragen oder das Notdürftigste, das ihnen belassen war, wuschen sie in Eile in den schwarzen Pfützen und in dem Bassin und sie traten auf einen sauberen Flecken, wenn sie sich, mit schmutzigen Handtüchern, die Füsse trockneten, wie jeder andere Mensch. Sie mögen früher den gleichen Komfort gekannt haben, den jeder von uns als selbstverständlich empfand, bevor auch wir in die Unnatur des Krieges gestoßen wurden. Gerade dieser Kontrast von Lebensformen einer normalen menschlichen Welt und der jetzigen Situation bewegt unsere menschlichen Tiefen und ruft die Reaktion eines besonderen Mitempfindens, gemischt aus Erstaunen, Abstoßung, Erbarmen und Trauer, hervor. Und aufschlußreich auch dieser Gegensatz: die Wächter, braungebrannte, muskulöse, oft herkulische Gestalten mit brutalen, verwegenen Gesichtern, die ihre Tätigkeit geprägt hat, stehen mit nackten Oberkörpern, schwerbewaffnet, um die Gefangenen gleich einem eisernen Kreis, der ihr Schicksal symbolisiert. Darin liegt etwas Grausam-Vorzeitiges, Entfesselung des Menschen zum Tierhaften hin, Asiatisches. - Nur das Reifen der Reben, das Rauschen im Maisfeld, der Wind, der über die Gräser streift, lassen mich in der Natur die höhere Ordnung ahnen, deren Gefüge unerschütterlich über allem menschlichen Treiben steht.