Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


April 1945


17. April 1945
 
Vorigen Freitag, nachdem ich die Handwagen am Nachmittag aus Welzheim geholt hatte (in der Fabrik sah ich die abgemagerten Gestalten aus dem gegenüberliegenden Konzentrationslager in grauen Elendsgewändern mit roten Streifen, schreckhafter Eindruck!), war ich abends noch in der Sägemühle zum Schlachtessen eingeladen. Der derben Turbulenz bäuerlichen Lebens ist man stimmungsmäßig nicht mehr gewachsen, wenn man sich auch in dieser naturhaften Welt irgendwie wohl und geborgen fühlt. Am nächsten Tag gegen Mittag verließ ich dann die guten, harmlosen, um den Bestand ihres bescheidenen Daseins bangenden Menschen. - Es wurde dann gepackt, verladen, geschleppt, wieder abgeladen in jener für das Militär so typisch unsystematischen und unpraktischen Art. Gegen Abend waren dann die verschiedenen Fahrzeuge vollgepackt, ich ruhte mich noch ein paar Stunden in Neubauers Quartier aus und gegen 21.00 Uhr waren dann alle schlecht und recht auf die Fahrzeuge verteilt. - Noch vor der Abfahrt traf ich René, den ich am Vormittag nicht mehr besuchen konnte, nachdem ich die Nacht vorher noch in der kleinen Bauernküche mit ihm geplaudert hatte. Wie stark pulsiert doch auch durch die einfache französische Seele der Strom echten Humanitätsdenkens, das aber in Zeiten wie der unsrigen schnell überdeckt werden kann von der leicht entflammbaren vengeance als Reaktion auf das, was Frankreich in diesen letzten Jahren erdulden mußte. Aber ist ein Leiden gleich dem, das den Wohlmeinenden und Unberührten unseres Volkes auferlegt ist?


Ich fuhr ganz gut im Verpflegungswagen, aber die Fahrt selbst in der Nacht war nicht ganz einfach und erforderte mehr Zeit, als vorgesehen war. Es ging über Schwäbisch-Gemünd, Heidenheim, Dillingen (wo die Donaubrücke bereits zur Sprengung vorbereitet war!) nach Oberndorf im Mündungswinkel von Lech und Donau. Kaum waren wir, verstaubt und frierend, angekommen, ging es ans Abladen, und durch eigene Unvorsichtigkeit mußte ich mehr tun, als notwendig gewesen wäre. Planlos wird man aufgegriffen und muß herhalten. - Das weit auseinandergezogene, breit in der Ebene hingelagerte Dorf mit flachgiebligen Dächern, hellem, farbigem Wandverputz und einer weiß gekälkten bayrischen Zwiebelturmkirche (bäuerlich-bescheidenes, aber bodenständiges Barock) machte zuerst einen fremden, kühlen Eindruck. Viele fühlten sich an Ungarn erinnert. Die grüne Ebene mit dem weiten Himmel jedoch ist echt bayrisch, irgendwie Alpenvorland, ohne daß man genau zu sagen wüßte, warum. Alles ist breit und behäbig, aber ohne die Sattheit der westfälischen oder die Melancholie der ostdeutschen Ebenen.

Nach einigen Schwierigkeiten fand ich Quartier bei einer jungen Frau, deren Mann seit 2 Jahren in Rußland vermißt ist, die selbst in Augsburg beim Fliegerangriff alles verloren hat und nun hier in zwei kleinen Räumen bei einer netten Familie wohnt. Einen Raum hat sie uns zur Verfügung gestellt. Noch während wir auf Quartiersuche waren, kam ein Mann, ein alter Bekannter, zu uns und bot uns ein zweites Quartier bei ihr an. Diese junge Frau ist das Rührendste an Mensch, was ich seit langem erlebte. Nach außen herb im Wesen wie viele dinarische Typen, hat sie doch ein goldenes mütterliches Herz und leidet, obwohl äußerlich in ihr Schicksal ergeben, schwer unter dem Verlust ihres Mannes, mit dem sie sehr glücklich gelebt haben muß. Die Ehe war ihr etwas Unantastbares, Einmaliges, ein Glück, für dessen Verlust es keinen Ersatz gibt. Nichts in ihrem Wesen deutet auf die Wankelmütigkeit der Seelen jener jungen Frauen hin, die ihren Mann verloren haben und sich nach einer neuen Bindung sehnen und daher im Beisein anderer junger Männer leicht und oft allzu leicht Sympathie, Gefallen oder gar Liebe verraten und ihr ganzes Wesen darauf einstellen, ein neues Gefühl geschickt und ungeschickt zugleich zu verbergen und es doch spüren zu lassen. Ihr Glück [dagegen] muß ein absolutes gewesen sein. Ihre Haltung in starkem Gleichmut ist zu bewundern, abre man spürt doch die tiefe Müdigkeit und Resignation. Sie lebt und dient - ihrem Kinde und nun uns, denn durch uns sieht sie gewiß ihren Mann, einen sympathischen, kraftvollen, jungmännlichen, aber reifen Typ, mit klaren, guten, warmen Augen. Der kleine, bescheidene Haushalt ist wunderbar geordnet und gepflegt und die Enge des Lebens kommt einem nicht zu Bewußtsein. In demütiger Würde, sich selbst fast auslöschend, wirkt sie umsichtig überall, nn unermüdlichem und selbstverständlichem Fleiß. Ich habe selten so etwas an selbstverständlicher Hilfsbereitschaft und Sorge erlebt, an echt fraulicher und mütterlicher Wesenheit. Sie besitzt einen lieben, aufgeweckten Buben von 4 Jahren. Wie glücklich könnten diese Menschen sein, wenn die Welt nicht durch den Wahnsinn entstellt und an den Rand des Abgrunds gebracht worden wäre! -
 
April 1945
 
Dieses Leben im letzten Rest des unbesetzten Landes ist ein Anachronismus, ist bereits Vergangenheit in dieser Form der gespenstischen Gegenwart. Wie hätte man sich früher an solch einen unnatürlichen Zustand gewöhnen können, aber woran hat uns der Zwang der Zeit und unsere beharrende Trägheit nicht alles gewöhnt! - Wir werden bis zuletzt dem Teufel gehorchen müssen! Die Welt erstarrt fassungslos vor aufgedeckten Greueln. Schmach und Schande und Verachtung brechen nach allen Prüfungen nun auch noch über uns herein. Was ist das für ein Volk mit den schärfsten Gesetzen zum Schutz der Tiere und der grauenhaftesten Freizügigkeit im Quälen und Morden der Menschen? - Schuld und Gericht haben sich zu undurchdringlichem Dickicht geballt, in welchem die Blüten der Unschuld, die wenigen lichten Augen kaum ihre Wahrheit zu behaupten vermögen. Wehe über uns, der Gott des Alten Bundes ist erwacht: Mein ist die Rache. Doch wollen und dürfen wir nicht vergessen, daß Er auch der Herr der höchsten Gerechtigkeit und Liebe ist, der denen, die es verdienen, einen Ausweg aus dem Inferno weist, ein Morgenrot über den Ebenen der Ewigkeit.


Wir werden bald wieder unterwegs sein. Ganz Europa ist heimatlos und auf irrem Wege. Zusammengedrängt im letzten Winkel, entziehen wir uns nur trügerisch der letzten Entscheidung. Angst und Ungewißheit sind im Alltag unsere Begeleiter. Hoffentlich ist der Tag nahe, da alles Furchtbare von uns genommen wird und wir in der neuen Ordnung ein neues Leben beginnen dürfen mit Gottes Willen. - Heute morgen traf im Ort ein Zug dunkler Gestalten ein, in Decken gehüllt, abgerissen, ungepflegt und des Notwendigsten bedürftig: aus einer Rüstungsfabrik entlassene italienische Arbeiter auf ungewissem Zuge nach Süden. Erst zum Dienst gezwungen, un auf die Straße getrieben! Suchend irrten sie umher und wollten sich an den Bürgermeister wenden um Nahrung. Wir gaben ein Brot, das einer allein aufaß. Oh, der Hunger, wie werden wir ihn selbst noch spüren, welch ein Symbol, dieser traurige Zug der Heimatlosen! Für ein Mittagsmahl scheinen nun alle untergebracht zu sein, die menschliche Hilfsbereitschaft möge ihr Werk tun. Meine gute Wirtin hat 2 von ihnen zum Essen gebeten, welch ein Beispiel tätiger Menschenliebe ist sie doch. - Im Hochamt, dem ich in der festlichen, schönen Rokokokirche des Dorfes beiwohnte, sprach der junge Priester schlicht, eindringlich und zu echtem christlichen Leben mahnend zu den Bauern im Gleichnis vom Leben des heiligen Konrad von Altötting, der sein einfaches Leben als Bauer und Pförtner so lebte und erfüllte, daß es ihm Aufstieg zur Heiligkeit wurde. Der Priester, ein frischer, vitaler Typ, verhehlte nicht seinen stolzen bayrischen Partikularismus im Gewande der Heimatliebe.