Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


Epilog 1946


2. Dezember 1946
 
In der 2. Nacht [1./.2. 12. 1946] in der neuen Wohnung hatte ich folgenden Traum: Weite, gegliederte Hallen mit Treppenhäusern, Akademie, Universität oder Schule mit angegliedertem Museum. In einem geschlossenen Raum mit Kollegen. (Wirklichkeitsreflexe aus meinem neuen Tätigkeitsbereich!) Lebhafte Diskussion, in die auch die geheimnisvolle Gegenwart des Bildes mit den Augen, die zum Leben erweckt werden können, hineinspielt. Ich kenne das Bild nicht, erkläre aber, es anschauen und zum Leben erwecken zu wollen. Widersprüchliche Reaktion, in die sich Bewunderung mischt. Ich eile die Treppen hinunter. (Ungewisser Eindruck, mehr bloße Empfindung.) - An einem Pfeiler im Museum hing das Bild, eine Art Porträtzeichnung im Stile Holbeins, ein durchgeistigter männlicher Kopf ungefähr im Alter von 50 Jahren, in altdeutscher Tracht, jedenfalls mit barettähnlicher Kopfbedeckung. Die Zeichnung schien mit bläulicher Pastellkreide ausgeführt zu sein und war plastisch schraffiert. An der unteren Schmalseite des Bildes war ein Metallstift angebracht, etwa in Form eines aus der Wand herausragenden Nagels. Diesen Stift mußte man mit dem Mund berühren, also dem Bild gleichsam Leben einhauchen. Ich tat es und erlebte, wie sich die toten Augenhöhlen langsam mit funkelnden, lebendigen Augen füllten, die eine faszinierende Kraft ausströmten. Auch das Gesicht begann sich zu füllen und zu beleben. Die Wirkung war überwältigend, in das Gefühl, eine Tat getan zu haben und darüber Glück zu empfinden, mischte sich die Empfindung, etwas gewagt zu haben, das an der Grenze des Erlaubten liegt und das man nicht ungestraft tun darf. Ein leichtes Grauen überrieselte mich, und ich eilte, ratlos und verwirrt, hinweg, ohne die weitere Wirkung der Verlebendigung zu beobachten.

28. Dezember 1946
 
Erinnerungen! - wie ein Meer verlockt ihr mich zur Flucht in eure Wogen von den Felsenufern unendlicher Trauer und Ratlosigkeit! Gnade seid ihr für die Seele, die ihr Eigenstes nur in euch finden kann, nur in eurer lebendiger Traumgegenwart spürt, daß es einst ein ?Leben? gab, das diesen Namen verdiente - schmerzvolle Prüfung für das Bewußtsein und den lebendigen Leib, der der Wüste die niedersten Bedingungen und Voraussetzungen der Existenz Stunde um Stunde mühsam abzuringen hat! Der kleinste Gegenstand, der den Zusammenbruch, den Tod einer persönlichen Welt mühsam überdauerte, er grüßt mich als Bote aus eurer Welt, er öffnet die immer nur angelehnte Tür zur seligen Flucht und eure Gegenwart ist mir wirklicher als das mit hundert Sinnen erfasste und von Millionen Wesen als Selbstverständlich Hingenommene. Ein Duft, welche gewaltigen Räume der Vergangenheit eröffnet er mir, ein zufälliger Blick auf eine Farbe, ein Schriftzug, die Farbe eines Abendhimmels, eine Melodie, ein Vers - es kann das Geringfügigste sein - führt mich zu euch hin, nein, macht mir eure Allgegenwart in jeder Sekunde bewußt, sodaß sich die Grenzen verwischen und die Bereiche ineinanderfließen zu einer Einheit, die höhere Wahrheit und Wirklichkeit besitzt als jede harte Berührung mit dem, was alle Menschen "wirklich" nennen!
 
Welche Landschaften der Seele, welche Abgründe und Höhen nehme ich wahr mit meinen Blicken, unendliche Reiche und Reichtümer habe ich durchmessen, es ist mir, als schaute ich von einem Leben auf ein zurückliegendes und in der Mitte gähnt eine dunkle Kluft, eine Art Tod, in dem eine sich nähernde Minderung beider Sphären vor sich geht, in dem eisige Schauer der Vernichtung und großes Feuer sich durchdringen. Das Leben ein Traum - der Traum das Leben - geheimnisvolle und doch verständliche Wahrheit. Eure Gegenwart oder vielmehr die Möglichkeit eurer immanenten Vergegenwärtigung durch den winzigsten Anlaß und die geringste Bewegung des Geistes ist vergleichbar mit einer Liebe, wie sie Rilke als höchste Form der Liebe verstand: einsam und getrennt vom geliebten Wesen, unerfüllt, ewig hoffend, ganz aus sich und aus dem Feuer der Seele existierend und sich gewaltig steigernd und in dieser Form des Seins zugleich höchstes Glück und höchste Seligkeit gewährend - eine Liebe, die sich in sich selbst erfüllt und höchste geistige Kraft darstellt und die schließlich vergißt, woran sie sich entzündete, in der die erste Regung des Anfangs ununterbrochen wie ein Pulsschlag lebt und deren Ziel unendlich und nicht zu ermitteln ist... So ist euer Leben in meiner Bedrängnis das Innere meines Seins, Verzweiflung, Trost, Seligkeit und vielleicht auch Hoffnung. -
 
Als ich gestern nachmittag aus dem Rathaus trat, fiel mein Blick auf die Tanne, die man [als] Weihnachtsbaum am Brunnen aufgestellt hat. Der Himmel war trübe und undurchdringlich grau mit einem kaum wahrnehmbaren Anflug gelblicher Tönung, die den Eindruck der wolkendichten Verhüllung noch verstärkte. Bläulich-feuchter, zarter Nebel wob zwischen Straßen und Häuserruinen, die nasse Kühle war durchdringend. Es war der Tieflandwinter in seiner landläufigen Gestalt, die zur Abkehr von den weiten Räumen des Draussen auffordert und die Seele auf die Sensationen, Empfindungen und Ereignisse verweist, die sich in wohlausgestatteten Räumen, in Wärme, in künstlichem Licht ereignen und sich durch Bücher, Musik, Feste, Theater mitteilen, erregend und von Farbe und Duft in besonderer Form belebt... Ein Fluidum von Menschenhand, -geist, Kunst und Lust geschaffen, in dem Eros nicht ungern seine erlaubten, verbotenen und verruchten Pfade wandelt... Ich liebe diese nachmittägliche Großstadtstimmung zu der Stunde, wo der Tag sein Recht aufgibt und die Nacht wie eine große schenkende Geliebte ihren vielfältigen Zauber in den ersten Lichtern hinter den schweren Fenstergehängen der Cafés und in den gleissenden Auslagen der Geschäfte, in Lichtreklamen und Autoscheinwerfern entzündet, wenn die Innenräume der Theater, Kinos, Bars und großen Kaufhäuser zu einer Welt voll faszinierendem Leben werden...
 
Vergangen, vergangen, dies alles - statt dessen erstorbene Ruinen, zwischen denen sich hastiges, glühendes, verzweifeltes und qualvolles Leben vollzieht. Die Beleuchtung vertieft die Trostlosigkeit und die wenigen elektrischen Lampen, die trübe und verlassen aufglosen, sind eher ein Gruß des Todes als Boten eines anderen, nicht minder wirklichen Lebens. - Aber das sah ich in diesem Augenblick nicht.
 
Ich sah den Tannenbaum, grausam verpflanzt und entwurzelt, sah das feuchtverhangene Grün der dunklen Nadeln, die in der nebligen Luft auf frühere Art zu leben schienen, sah die nasse, aufgeworfene Erde unter dem Stamm und wurde an Wald erinnert, vielleicht gar an den Wald vor den Toren Kölns, an die feuchte, herbe, karge, verhaltene Natur des Waldes nach Frost und Schnee oder zwischen Frostperioden, wenn Erstarrung und Eisschicht von Boden, Moos, Stamm und Gezweig vorübergehend abgetaut sind und jenes besondere winterliche Zwischenleben beginnt, so ganz verschieden von der seligen, rauschenden Fülle des Sommers, aber doch auf eine ergreifende Weise eindringlich und tief. Es ist alles still, nur ein verirrter Vogelruf vom bleigrauen Himmel und im Gesträuch vielleicht das Rieseln eines Tauwassers oder das klare Rinnen eines befreiten Baches. Der Boden duftet, noch nicht nach Frühling, er duftet sich selbst, sein reines, kräftiges Wesen, doch der Duft bleibt knapp, unsinnlich, ganz verhalten, weil die Luft kühl und voller Wasser über ihm schwebt.


Es liegt etwas wie Vergeistigung in den Äußerungen der Natur. Noch spürt man keine steigenden Säfte, keine schwellenden Wachstumsverheissungen, noch ist alles reines winterliches Ruhesein, doch Leben ohne die schmerzliche Starre der Vereisung. Weniger die Laub- als die Nadelbäume äußern ihr Leben auf die gleiche reine Weise. Ihr Leben ist ein unausgesetztes bedächtiges und tief sicheres Sicherfüllen. Das herbe Arom des Harzes ist gleichfalls vorhanden, nur eben auch unsinnlicher als im schwelenden, kochenden Sommer. Die Konturen sind härter, da die Fülle der Vegetation fehlt, doch mildern Nebel und wassergesättigte Atmosphäre wiederum das Gesamte. Besonders schön sind die Tannen im feuchten Tropfenspiel. Sie sind der eigentliche, echte Waldbaum, vertreten im höchsten Norden und mittelmeerischen Süden und überall voller Stimmung, Größe, Schönheit, geheimnisvoll und anheimelnd zugleich. -
 
Und dann der Blick vom Rande eines solchen winterlichen Waldes über ein Stück Heide oder Brache oder einen umgestürzten Acker - wie überkommt ihr mich, Geister der Erinnerung an frühe Schülerausflüge im heimatlichen Königsforst, die ich nur liebte, wenn kein Kriegsspiel veranstaltet wurde und deren schönstes Geschenk ein pflichtenlockrer, der Musik und den Büchern oder dem Sinnieren gewidmeter Nachmittag im elterlichen Hause war. An diesen Tagen spürte ich die sorgende und liebevolle Häuslichkeit meiner Mutter immer besonders; in noch weicherer Stimmung als sonst genoß ich die stille Feierlichkeit des Heims, die wie ein gütiges Wesen, dessen Herz meine Mutter war, mich umlagerte und umhütete.


Oder fühlte ich ohne klar zu wissen die Erinnerung an andere Begegnungen mit dem regenfeuchten Walde in der Eifel oder dem Bergischen Lande bei Autotouren, Wochenendfahrten, beim Landdienst oder gar Arbeitsdienst? Die eisigen Wälder des unermeßlichen Rußland waren wieder ein anderer größerer und in besonderem Lichte stehender Erlebniskomplex. Was diese Tanne, an der ich gleich wieder vorbeigehen werde, doch mit mir vermochte! Oh Wunder in Dingen und Bezügen, oh Wunder selbst in einer erloschenen und zertrümmerten Welt, die ihr Leben auf diese Weise bekundet.