Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


April 1945


April 1945
 
In Kaisersbach, in tiefster schwäbischer Einöde, getrennt von allem, was der Seele irgendwie Auftrieb geben könnte, aber geborgen im Glauben an den christlichen Gott der Erlösung und Gnade und Gerechtigkeit. - Deutschland existiert praktisch nicht mehr, zerwühlt, zerstört, besetzt bis weit nach Thüringen, Westfalen und Süddeutschland hinein. Es vollendet sich mit grausamer Konsequenz die Katastrophe, die dieses Volk in verblendetem Wahn über sich heraufbeschworen hat. Alles Tun ist sinnlos geworden, es ist so mühsam zu schreiben. Jeder Tag ist seit Jahren eine furchtbare Tragödie, die alle Federn der Welt Mühe hätten zu beschreiben. - Jede Stimme, die sich aus der Tiefe dumpfer Befangenheit und Verstrickung hätte lösen wollen, wäre brutal zum Schweigen gebracht worde. Blut und Tod waren nicht nur im Kriege die eigentlichen Herrscher. Es ist heute ein Fluch, dieser Nation anzugehören. Nie wird sich in der Geschichte, auch der zukünftigen, eine Parallele zu dem finden, was heute hier geschieht: bewußter Selbstmord, Harakiri, gelähmtes Zusehen bei der eigenen Auflösung, die durch Abtötung letzter Freiheiten und eingeborener sklavischer Unterordnung innerhalb einer nach militärischem Muster gebildeten Gesellschaftsordnung, in der die minderwertigen Elemente dominieren, heraufbeschworen wurde.


Es ließe sich unendlich viel sagen, zu dem, was uns allen geschehen. Eine nationale Kultur ist fast ausgerottet, die tragenden bürgerlichen Schichten ebenfalls, die Lebenszentren der großen Städte existieren nicht mehr und die Pest eines Bürgerkrieges beginnt zu grassieren, wenn man den Meldungen glauben darf. Aber ich glaube, daß in den besetzten Gebiete tiefe, erschöpfte Apathie herrscht nach der tödlichen Überanstrengung. Und man weiß nicht, wo dort etwas emporkeimen wird. Aber jede Zukunft ist besser als diese Gegenwart, die nur immer tiefer die Vernichtung in einen in letzten Zuckungen liegenden Lebenskörper trägt. Danach wird vielleicht alles tot sein und man weiß, daß höchstens etwas emporwachsen und nichts mehr zugrundegehen kann. Oh Zeit ohnegleichen! Kann überhaupt je einer ermessen, was eine feiner organisierte Seele leidet, ehe sie erlischt, oder, wenn sie sich erhalten konnte, ehe sie erlöst wird? Erst nach dem Rasen des Chaos wird man feststellen können, was davon übriggeblieben sein wird und man wird sich vielleicht verwundern, was in der Wüste noch lebt von den Trägern, denen das geistige Deutschland und der Geist der Welt Nahrung waren und an denen die Vernichtung vorübergehen mußte. Es wird nur eine kleine Schar sein, doch wie das Heer der Geister in den Lüften wird ein Klingen um sie sein: ein Klingen von Liebe, Willen zum Guten und von Trauer um das Vergangene. - Könnte ich die furchtbare Verlassenheit bannen und einmal wieder in der Welt Einkehr halten, die durchwärmt ist von liebenden Herzen, von Wohlhabenheit und einer reinen Kultur der Seelen und der Geister! - Jetzt lebt der Mensch wie ein Tier im Joch, kämpfend um die Befriedigung elementarster Bedürfnisse. Er ist häßlich, niedrig und gemein geworden und im Deutschen ist das Schlechte und Gute auf eine besonders erschütternde Weise untrennbar miteinander verbunden.
 
13. April 1945
 
Über 8 Tage eingesperrt in diesem dumpfen Idyll und nebenher ein primitives, körperliches Leben geführt ohne irgendwelche Erfülltheit. Die Menschen hier sind im Grunde doch geizig und manchmal erschreckend kalt und taktlos. Ich habe ein großes Bedürfnis nach einer gleich- oder höher schlagenden Seele. Wenn mich auch von Bernhard manches unterschied, so standen wir doch im Grunde sehr nahverwandt zu den Problemen des Daseins, er besonders: reifer, klarer, selbstbewußter und wählender, sicherer in seinem Gesetz. O. ist zu betriebsam und selbstversponnen eitel in seiner Fachwissenschaft, die ihm Religion bedeutet und dann auch zu wenig fähig, in der äußeren Welt zu bestehen. F.B. ist zu sehr verbeamtet. Beide sind gute, echte Menschen, mich verlangt nach dem seelischen Elan der Freundschaft, jenem zärtlichen und vorsichtigen Sichausliefern der Herzen ohne Preisgabe. - Nicht umsonst denke ich oft an Otto Gr., jener schwarzen, schlanken, herben Erscheinung, die ich nur im Glanz der Krankheit und aus Briefen kenne, deren Liebe und Vertrautheit mich wie ein Märchen anmutet, da alle Bezüge in der Wirklichkeit fast fehlen und die Erinnerung sehr abgeblaßt ist.


Auch die rein materiellen Güter fehlen mir, man muß auch physische Kräfte aufstocken. - Gestern ist wieder ein Haufen abgefahren, wir werden wieder bis in die Gegend von Donauwörth tippeln müssen. Ich erlebe alles nur halbbewußt, wie eingesargt im Wahn der Zeit und in eigenen Hoffnungen und Träumen, von deren Erfüllung man nichts wissen kann. Wie lange noch triumphiert das Verbrechen im blutigen Rausch der Selbstvernichtung?? - Die Nacht habe ich wieder einen bezeichnenden Traum gehabt: mir war, als sei Ebersteinburg von alliierten Truppen besetzt worden. Ich weiß nicht zu sagen, ob es Engländer, Franzosen oder Amerikaner waren. Ich war wohl in meinem Quartier bei Walters, die erlebte Wirklichkeit erscheint im Traum ja leicht verschoben und verzerrt, man war eigentlich recht nett und ruhig. Später fuhr ich in einem Auto über eine nächtliche Landstraße zwischen Bergen. Ich sprach deutsch, wenn ich mich recht erinnere und habe wohl auch gefragt, warum man unsere Städte so zerbombt habe. Das war das 4.Mal, daß ich von Gefangenschaft oder einem Zusammentreffen mit Menschen der außerdeutschen Welt träumte, und ist wohl auf die Unterhaltung zurückzuführen, die O. und ich gestern mit dem netten Franzosen, einem boucher aus Paris, hatten. Zerwühlt ist die arme Menschheit von verhängnisvollen Ideologien und den verbrecherischen Vertretern derselben im Bereich der Politik. -