Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


Im Lazarett, Mitte April 1942


Körper und Seele sind zur Ruhe gekommen. Frieden umgibt sie. Und der Geist fühlt sich fähig zur Rückschau, zur deutenden Sinngebung des Erlebten. Er sucht die Stellung des Ich im Fluß der Zeit zu erkennen und es scheint mir unabwendbar wichtig, darüber Klarheit zu gewinnen, was diese Zeit für das Werden meiner Persönlichkeit bedeutet. Alle Menschen sollten sich darum bemühen, die Frucht einer solchen Einkehr kommt immer der Gesamtheit zugute..
 
Das Schicksal des Menschen ist Symbol für das Schicksal der Nation, - der Welt. Die Mächte der Geschichte, Emanationen eines überirdischen, transzendenten Reiches, in dem allein die göttliche Vernunft waltet, haben unserer Generation die schwere Aufgabe zuerteilt, einer neuen Welt zum Dasein zu verhelfen. Nach ihren unerforschlichen Gesetzen wechseln die Epochen irdischen Geschehens, und jeweils fällt den würdigsten und reifsten Völkern die Verwirklichung dieses Geschichtswillens, der seine konkrete Formgebung von den schöpferischen Kräften einer Elite dieser Völker hernimmt, zu. Was nutzt es, wenn ein winziges Menschenatom sich den Ausmaßen eines solchen Prozesses entgegenwirft: Es wird zerrieben! Und wenn eine Schuld im Großen begangen wird, so findet sie vor einer Instanz, deren Wirken sich unserer Fassungskraft entzieht, Strafe und Sühne. Für jeden Einzelnen, der sich dieser Dinge nur ungefähr bewußt ist, heißt es: Die Pflicht erkennen und handeln! Denn es ist doch das Bestreben jedes gesunden Geistwesens, in der Produktivität die Möglichkeiten des eigenen Seins zu erproben, und ein noch Höheres ist es, die auf diese Weise entbundenen Kräfte einer geschichtlichen Aufgabe zu weihen, als sie nur im Kreis des privaten Wirkens zu betätigen, das allerdings beim Genie zum allgemein-verbindlichen Lebensgleichnis emporstrebt. Was nationale Pflicht ist, ist auch im weitesten Sinne menschliche Pflicht. Die Finsternis ist bald durchschritten, im Lichte müssen wir den Bau zu Ende führen, dessen Fundamente jetzt gelegt werden durch den Opfergang der Besten aller Völker. Den Lebenden ist die schwere, aber erhabene Verpflichtung auferlegt, sich stets dieser Opfer zu erinnern und ihrem Sterben Sinn in den Taten zu verleihen. Die endgültige Gestaltung der durch ihren Tod heraufgeführten Wirklichkeit muß der Volkheit heiliges Vermächtnis sein, Beispiele und Zuchtmittel für eine Genration, die abzufallen droht. Und immer müssen wir das Maß im Auge behalten, die Grenzen unserer Befugnisse erkennen.
 
Das ist - skizzenhaft - der größere Rahmen, in dem sich auch eine vielfältige Wandlung im kleinen vollzieht. Dieses Kleine ist die Einzelseele. Zurückblickend scheint es mir oft ein Wunder, die Finsternisse des vergangenen winterlichen Infernos, das der Seele die furchtbaren Gefährdungen und den Blick in das Nichts auferlegte, ohne tiefere Versehrung und Trübung überwunden zu haben. Ja, was mir in Rußland verderblicher Dämon schien, wird in der Betrachtung und im tieferen Begreifen, deren Vollzug in reiner Reflexion nur der zeitliche Abstand ermöglicht, fördernde, läuternde, steigernde Macht, göttlicher Meißel am Stoff unseres Wesens, das uns in neuem Licht, gleichsam umgeschmolzen und von fremdem Erdreich gereinigt, entgegentritt. Alle Verschalungen blättern langsam ab. Vielleicht ist der Krieg eine auszeichnende Weihe für den Mann, eine zweite Taufe. Den primitiven Menschen, dem es an innerer Festigkeit mangelt und der nicht vom eigenen Reichtum zehren konnte oder den, den der Tod auf eine besondere mystische und einmalige Weise anrührte, mag der Krieg und seine Geschehen grundlegend wandeln, nicht aber den geistigen Menschen, der am Übermateriellen seinen Halt und seine Wesensfromung fand und weiter finden wird. Und weiterhin: Nicht nur die Seele ist geläuterter - auch die Welt, ihre Güter und immateriellen Werte, hat, gesehen durch das Medium des kriegserschütterten Geistes - ein anderes Gesicht erhalten, begründet eben auf einer neuen Rangordnung aller objektiven Phänomene. Aus dem Episodischen und rein Zufälligen, das so gern Geist und Sinne umdunkelt, steigt klar das Ewige und Beständige. Wenn man den Krieg und seine Auswirkungen auf diese Weise betrachtet (und das kann man trotz aller Greuel), so hat man selbst das Gefühl, unversehens aus einer lichtlosen Sphäre in eine lichterfüllte zu treten, eine Stufenüberwindung im Zuge der Metamorphose unserer irdischen Entwicklung vollzogen zu haben. Der Mensch, der kein grundsätzlicher Lebensverneiner, kein Todessüchtiger ist, schaut immer in tiefster Finsternis das Licht, sei es nun, daß es ihm aus der Religion, aus der Kunst, der Wissenschaft, der Liebe, aus dem Bewußtsein der eigenen Sendung oder seiner Arbeit entgegenstrahlt.
 
Die Seele ist der Sitz des Göttlichen im Menschen. Und wenn er ein wenig nachdenkt und vom eigenen Ich abzusehen versteht, muß er auch im Kriege ein höheres Wirken einer göttlichen Macht erkennen und trotz aller Schmerzen dankbarer, bereiter, gläubiger denn je sein, denn es ist eine Gnade, wenn Gott, auch durch Zorn und Heimsuchung, an uns wirkt, indem er die Kraft fordert, diese Prüfung siegreich, sei es im Leben oder im Tode, zu bestehen. Zugleich dienen wir aber durch eine solche Haltung nicht nur uns selbst, sondern der größeren Gemeinschaft und schließlich dem ganzen Kreis aller religiös verwurzelten Menschen. Diese ins Weite und Breite wirkende Seelenvollendung, die zugleich höchstes Beispiel reiner Selbstopferung im Dienste an einer gewaltigen Gemeinschaft ist, bietet Christus. - Wir haben daher die Aufgabe, die Frucht dieses göttlichen Wirkens an uns in unseren irdischen Wandel, unsere Lebensgestaltung, in die Spur von unseren Erdentagen einzusenken. - So bildet ein Krieg, im weitesten Sinne aufgefasst, eine der höchsten Möglichkeiten diesseitiger Bewährung, das Individuum kann wachsen zum Helden an der Bewältigung eines Überindividuellen und kann natürlich gleichfalls, bei Versagen vor der Forderung des Schicksals, seine tiefste Erniedrigung erleben, mit ihm Volk und Welt. -
 
Wenn man gläubig (nicht nur in religiösem Sinn verstanden) ist, hat alles Geschehen einen Sinn, ist nicht bloßer Zufall. Die Geschichte ist kein anonymes Fatum: Eine solche Auffassung wäre materialistisch, Philosophie eines sterbenden Zeitalters. Will sich der Wille des Schicksals verwirklichen, so braucht er die Kraft der Menschen, daher ist unser Dasein ein ewiges Überwinden der Schatten, ein ewiges Streben nach Licht, nach Erleuchtung, Erkenntnis, nach Bewährung und Selbstvollendung. Alles Lebendige will sich in der Gestaltung verewigen. Das lehrt uns Goethe, und die große Kunst aller Völker und Zeiten spiegelt dieses Streben; denn Kunst will im Symbol der Überhöhung der sinnlich-irdischen Erscheinungswelt das Ewige, Göttliche, eine letzte Essenz ahnen lassen. Parzival wird nach langem Wege des Irrens Gralshüter in der Heimat des Lichts, Dante wandelt durch Geschichte, Welt und All aus den Höllenschlünden in ewige Verklärung, Gretchen erscheint endlich im himmlischen Strahlenkranz neben der mater dolorosa, den entsühnten Faust zu ihren Füssen - und auch wo alle Laster und Triebe der Welt Orgien dämonischer Hemmungslosigkeit feiern wie bei Balzac, da bricht doch aus dieser brodelnden Verstrickung das Wissen um das Lichtreich des Göttlichen, von dem der Entfessler dieses Chaos berührt sein mußte, denn nur der Glaube gibt ihm die Kraft zur Finsternis. Auch die Form des Kunstwerkes, die das Gestaltete der Urmasse des Ungestalteten entringt, ist das Abbild des Lichtwunders, Mysterium, Projektion der kosmischen Harmonie.
 
Tausende von Beispielen ließen sich anführen und im Mythos aller Völker nimmt das Licht als Symbol des Göttlichen schlechthin die erste Stelle ein. -
 
Und erst die Musik! Sie ist reinster Spiegel der ewigen Harmonie, in ihr offenbart sich, gefiltert durch die singende, weinende, verzückte Seele des menschlichen Genies das Antlitz Gottes am reinsten. Die Musik ist die sinnfälligste Gestaltung des Weges vom Finsteren zum Mysterium des Lichts. Sie ist und bleibt das holdeste Geheimnis in der Welt geistig-lünstlerischen Schöpfertums und vermittelt uns durch ihre Gottnähe reinsten Trost. - So erkennen wir, gewaltig einklingend in den Fluß der Welt und den Chor der Geister, den Wandel aus Dunkel zum Licht als ein Gesetz, dem aller lebendige Geist unterliegt.