Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


Ende April 1942


Unhistorisch leben? Ist das überhaupt möglich ohne Selbstaufgabe? Die Vergangenheit, nicht nur unsere persönliche, sondern die unseres Volkes und unserer Kultur ist der Wurzelboden aller großen, auch revolutionären Taten. Aus der Tradition, der Geschichte, die als fertiges Gebilde vor unserem Geiste liegt, ersehen wir alle Fehler, wir lernen ungeheuer an großen Vorbildern und Leistungen, an Glück und Unglück, wir vermögen die begnadete Stunde tiefer zu erkennen und den Auftrag ihrer Erfüllung tiefer zu begreifen, wir lernen unsere Kräfte messen und erproben, wir vermögen am Beispiel Schmerz und Bedauern über Unwiderbringliches besser zu überwinden. Denn die Vergangenheit ist der gewaltige Strom, der alle großen Taten mit sich führt, von denen sich die Genien und großen Tatmenschen gelöst haben, die als ewige Impulse eben in diesem Strom als Überzeitlichkeit weiter leben und das bilden, worauf der göttliche Schimmer fällt und worin Gottes Funken, durch Menschengeist empfangen, wirkt: das Reich der ewigen Werte schöpferischen Lebens, das Leben selbst, Krone der Natur, Natur verstanden als Objektivierung der höchsten Weisheit, Gottes.

Man denke in der Politik an Karl d. Großen, der sein Reich - die erste gewaltige Neuordnung des Abendlandes um die Achse eines neuen Schwerpunktes - mit den von der Berührung mit Antike und Christentum erweckten und sich des eigenen Wertes bewußt werdenden Kräften der germanischen Völker errichtete, an Otto d. Großen, der das erste Reich der Deutschen auf dieser Grundlage schuf; an Napoleon, dessen Trieb zum Herrschen sich am fantastischen Vorbild Alexanders d. Großen entzündete und dessen strategisches Genie sich an Turenne schulte, und auch an unsere Gegenwart, die, so erhoffen wir aus ersten Anzeichen, aus dem Feuer einer europäischen Neugeburt die Summe der ewigen Werte zweier Jahrtausende als ewig fruchtbares Erbe in die Zukunft retten wird - man denke an die romanische und gotische Baukunst, die aus der antiken Überlieferung wesentliche Antriebe empfing, an die Renaissance. Sicher ersteht in allen diesen Schöpfungen auch etwas ganz Neues, eben durch die Tat des Genies, aber es ist mystisch erweckt durch die Berührung mit einem bereits Gestalteten, das seinerseits auch wieder in einer Verwandlung, die der neugeschaffene Zustand oder das Werk bedingen, fortlebt und -wirkt. -