Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


31. August - 1. September 1944


31. August 1944
 
Donnerstag. Warmfeuchtes, föhniges Wetter. Morgens kurzer Gang in die Stadt, gefrühstückt, zur Post und Lebensmittelmarken getauscht. Gegen Mittag präsentiert sich der Spieß frisch und rosig vor der Komp. und erzählt von seinen Verhandlungen mit Abtlg.Kdr., Kp.Chef der 1. und Adjutant. Letzterer habe früher dienstlich mit Herrn N. zu tun gehabt und uns deshalb seine Unterstützung zugesagt. Wir werden dann bei der 1.Kp. einquartiert - auch nicht viel besser und man bittet uns sehr human, mit den primitiven Verhältnissen vorlieb zu nehmen. Das Gepäck wird vom Bahnhof geholt und man beginnt sich zu installieren. Man sollte immer alles sofort niederschreiben, denn die bobards, die den Tag würzten, sind mir entfallen! Aber der Betrieb verläuft sehr friedensmäßig, typische Unberührtheit von der Nähe der Front. Man versucht den Deutschen durch Propaganda und bewußt positiv gefärbte Informationen den wahren Sachverhalt zu verschleiern, bis er hoffnungslos vor der Realität steht und dann eben zu dem fähig ist, wozu ihn die Gewalt haben wollte. Die Höhe selbständiger Beurteilung ist den Bewohnern autoritärer Staaten versagt. -


Jedenfalls bewegt uns der Ernst der Lage in Gesprächen und Betrachtungen und B., der witzige, aber meist negative Cyniker, spricht von der Lokus-Theorie als dem Endeffekt und Grundcharakter des jetzigen Kriegsverlaufs. - Ein feuchter, kühler Abend sinkt. Die Stille ist erfüllt von Vorahnungen. Gegen Mitternacht weckt uns Alarm. Unsinnigerweise halten wir uns im hellen Mondlicht auf dem Hofe auf, obwohl die meisten im L.S.-Keller nächtigten, ehe man die Splittergräben aufsuchte. Lächerliche Prinzipienreiterei bis zum Ende. Als ich dann im Splittergraben erwähne, gehört zu haben, daß die Amerikaner auf Metz vorstoßen, weist man mich grob zurück. Ich schäme mich, der Unterhaltung dieser beiden Uffz. zuhören zu müssen, die mit wilder Lust und Radikalität von ihrem Frankreich-Einsatz erzählten, der dem unseren ähnlich war. Doch vermisse ich jegliches kühle Urteil, jegliches feinere moralische Gewissen. Sie unterstanden dem SD; man brauchte kaum diese Bestätigung. Was sollte auch auf dem Boden des Unrechts in solchen Gemütern anderes emporsprießen. - B., unser Cyniker, formulierte den Titel seines Kriegserlebnisbuches im Stile von Im Westen nichts Neues folgendermaßen: Wir schissen hinter Hecken (Kulturniveau Güterwagen) mit dem Untertitel: Michel oder Henker? - In der Nacht starker Verkehr ostwärts auf der Landstraße. -
 
1. September 1944. Freitag, St.Avold
 
Als wir morgens aufwachen, befindet sich die Dolm.Abtlg. bereits in fieberhaften Abmarschvorbereitungen. Gegen Morgen 5 Uhr soll vom OKW der Abmarschbefehl gekommen sein. Wir bemühen uns selbständig um unseren Abmarsch, machen unser Gepäck fertig und verladen es wieder. Herr W., von uns allen nicht allzusehr geschätzt, leitet die Aktion und ist sehr bemüht, unsere scheinbar plötzlich wieder recht kritische Lage zu überwinden. Er telefoniert mit Köln. Wir ziehen uns mit der Abtlg. weiter in den Hunsrück, nach Baumholder, zurück. Alles steht in der Schwebe. Hwm. Seidler noch nicht in Köln angekommen. Na, mit dem Fahrer! Um 9 Uhr taucht der unwahrscheinliche bobard auf, daß an 2 neuen Fronten seit einigen Stunden gekämpft werde. Der Rundfunk habe es durchgegeben. Und kurz nach heißt es, in der Deutschen Bucht sei eine Landung erfolgt. Es erfasst uns wie ein Taumel, eine Art Rausch, aber es bleibt dennoch alles merkwürdig unglaubwürdig. Die Bestätigung zögert. Mittags nehmen wir noch ein recht gutes Essen ein und dann marschieren wir langsam mit schwerem Gepäck zum Bahnhof. Der Himmel ist heller geworden, blasse Sonne fällt auf das gebirgige Wiesengelände; gegen den Horizont stehen die dunklen Bergzüge, ernst, herb, sehnsuchtweckend.


In St.Avold beginnt man das Räumen des Ortes. Vor der Parteidienststelle stehen Kfz.; die Bauern, vor 4 Jahren aus dem Osten verpflanzt und gezwungen, fremdes Gut und fremden Boden zu übernehmen, verlassen ihre Heimat, die ihnen nicht Heimat sein konnte. Auf Leiterwagen ist ihre ganze Habe verpackt, die Kleinsten sitzen um die sorgenvolle, oft aus leeren Augen blickende Mutter, der Vater führt das Gespann an, die Halbflüggen springen nach. Trauer und Schmerz verschwinden unter einer Maske. Welches Elend mag der Krieg noch in dieser Beziehung über uns bringen! Wir werden dann in einigen Wagons an einen Zug nach Saarbrücken gehängt und fahren in schönem Wetter durch Saarbrücken und dann nordöstlich. Die Nacht wird qualvoll, denn der Wagon ist zu voll und der Boden mit Mehlstaub bedeckt. Wir singen Volkslieder, v.L. und H. geben Solos von Edith Piaf über Spanien bis Afrika zum Besten. Die Stimmung weist wieder die in dieser erregenden Zeit so bezeichnende Mischung von nervöser Lachlust und albern-zynischer Witzigkeit als besondere Kennzeichen auf. Gegen Mitternacht stehen wir längere Zeit in Homburg auf dem Bahnhof. Fliegeralarm. Wm. P. gibt unverständliche Anordnungen über Verteilung von Zeltbahnen und Decken, worüber wir uns alle etwas ärgern, da das Gepäck dadurch in Unordnung gebracht wird. Der Individualismus, leider oft in krassen Egoismus umschlagend, ist immens wach. Mühsam und unter Schimpfen sucht man fast vergeblich einen Schlafplatz und quält sich in akrobatischen Stellungen in den Schlaf. Arme, glückliche, verlorene Rotte auf beneidenswerter Flucht!