Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


April 1945


April 1945
 
Eine Fülle von Ereignissen innerhalb 6 Tagen vor dem schaurigen Hintergrund des Untergangs! - Kaum war ich aus der Messe zurückgekehrt und hatte zu Mittag gegessen (2 der armen Italiener saßen auch am sättigenden Tisch der guten Frau), als mich die Kunde abermaligen Stellungswechsels erreichte. Da ich Dienst hatte, entging ich dem verhaßten brulot des Verladens. Es gab viel Tränen, als ich mich verabschiedete, und für viele bildet der abschiednehmende Soldat wirklich ein schmerzliches Symbol. Der kleine Georg war ganz verzweifelt. Konnte es anders sein, als daß sich auch dieser Umzug mit der gewohnten Planlosigkeit und Unordentlichkeit vollzog? Unvermittelt und beiläufig fragte der Spieß einige Uffze., wer zuletzt gefahren sei, und erklärte dann Wöhrmann, er müsse laufen. Ich schlug mich zu seiner Gruppe, d.h. es konnte mitgehen, wer wollte. Judt, Zander und Meier fuhren schließlich noch mit irgendeinem Gefährt, wir anderen (außerdem noch Hietsch, v.Bergen und Strohmeyer) waren frei, vogelfrei, und noch mit den anderen erwogen wir, ob die Möglichkeit, die das Schicksal uns in die Hände gespielt hatte, nicht auszunutzen sei. Zögernd und voller Bedenken, nach langem Hin und Her, nahmen wir Abstand. Markloser Intellekt! Aber es fehlte noch eine gewisse Vorbereitung. Nach einer kurzen Beratung im Schloß pilgerten wir los.


Regen drohte. Auf der Straße nach Rain ziemlicher Verkehr. Panzerspitzen in Dillingen, wußten wir. Infanterie mit Panzerfaust auf der Straße und entlang der Bahnstrecke. Auf der Lechbrücke im fahlen Mondlicht ein Trupp Infanterie mit M.G. in müdem Schritt. Traurig-unheimlicher Anblick sinnloser Menschenopfer. - In Rain, wo schon das Leben der sich nahenden Front zu vibrieren begann, standen wir bis gegen 00.30 Uhr an einer zugigen, kalten Straßenkreuzung und versuchten mit einem der zahlreichen Wehrmachtfahrzeuge ein Stück in Richtung München zu kommen. Aber vergeblich! Endloses Fragen ohne Zweck, obwohl eine Kontrolle alle Wagen anhielt, und Vorüberrauschen der Motorkolosse. Es schien, als sollte überhaupt unsere Reise durch die Ereignisse eine unvorhergesehene Wendung nehmen. Die Ungeduld der anderen trieb uns auf die windige Landstraße, eine Nebenstrecke nach München. Wir wollten im nächsten Dorf nach Quartier Ausschau halten. Aber es zeigte sich keine Dorf. H. grollte über uns als Abtrünnige. Mir schien es jedoch ratsam, aus dem Bannkreis der Front zu verschwinden. Welch eine Groteske, dieses Jagen in der äußersten Ecke eines schon vom Feinde zum größten Teil besetzten Landes! Auf W.s Taschenlampenlicht hielt tatsächlich ein Wagen und wir kletterten in das dunkle Innere, wo schon andere schlaftrunkene Soldaten hockten.

Ohne zu fragen wohin und woher hockten wir uns dazu und fuhren einige km in ein Dorf, Unterbaar, wo die Fahrt zu Ende war. Ein Bauer wurde aus dem Schlaf geholt und mit Zähigkeit wurde ihm ein kümmerliches Nachtquartier abgerungen. 3 Mann verschwanden im Kuhstall, H. und ich in die Küche, wo mir durch Losentscheid sogar eine couchähnliche Vorrichtung zufiel! Erbärmliches Zigeunerleben ohne Glanz, zu dem uns unser Schicksal zwingt! Es war 03.30 Uhr, und als ich morgens gerade in ein noch schlafwarmes Bett übergesiedelt war, drängten die Stallschläfer auf Aufbruch. Ich konnte es verstehen, und in der Hoffnung auf eine bessere folgende Nacht gingen wir in den trüben, nassen Morgen hinaus, Richtung Aichach. Bald begann es zu regnen vom verhangenen Himmel, und bis dann wieder ein Wagen hielt, waren wir tüchtig durchnäßt. Fröstelnd und unbequem trug uns die Kiste in rascher Fahrt nach Augsburg, von wo wir auf gute Fahrgelegenheit nach München hofften. Mit der Straßenbahn fuhren wir durch die furchtbar entstellte, einst so schöne Fugger-Stadt an den Stadtausgang nach München, wo wir in Privathäusern uns einige Erholung und Auffrischung zu gönnen gesonnen waren.

Jede Nacht auf einer fremden Lagerstatt, zu jeder Mahlzeit die Füsse unter einem fremden Tisch, heimatlos im eigenen Land. Doch das Verständnis für unsere Lage ist immer noch mit einem gewissen Wohlwollen gemischt, Wohlwollen für die traurigen Söldner und Skalven eines pathologischen Phantasten, der die Welt mit dem Schwerte nach seinen Wahnsinnsideen umformen wollte und nun in seinen Abgrund möglichst viel an absoluten Werten und Menschen herunterzureißen trachtet. - Bei alledem gewinnt man aus jedem Quartier ein Steinchen zu dem großen Mosaik deutschen häuslichen Lebens im 6.Jahr der furchtbaren Heimsuchung und staunt, wieviel Kraft, Beharrlichkeit und Willen zur Bewahrung der deutschen Familie noch zu eigen ist in verschiedensten Formen der Ausprägung in Bauern-, Klein- und Mittelstand, und man spürt hoffnungsfroh den Kern des Lebens, der allen Katastrophen zu trotzen bereit ist. -
 
April 1945 Auerhof bei Grainbach
 
Das Chaos in Deutschland ist in den letzten Tagen auf seinen Höhepunkt gestiegen. Die Verbrecher haben sich in die Schlupfwinkel, aus denen sie einst hervorgekrochen sind, zurückgezogen und gehen, einer nach dem anderen, zugrunde, das dezimierte und ausgeblutete Volk in einem furchtbaren Elend zurücklassend. Von Hitler hört man, seit er sich in Berlin befindet, nicht, wahrscheinlich ist er in irgendeiner Ecke verendet, während der Wahnsinn eines verzweifelten Kampfes die Stadt immer mehr einäschert. Göring hat demissioniert, die anderen haben sich feige verkrochen und haben Angst vor einem auch nur halbwegs anständigen Tod, nachdem sie Tausende in den K.Z. bestialisch hingemordet und Millionen an den Fronten in den Tod gezwungen haben. In Bayern lodern seit 2 Tagen Unruhen auf, zuerst in München, das heute besetzt wurde zu gleicher Zeit mit Mailand, dann in Wasserburg und Rosenheim.


Die Zeichen der Auflösung werden überall immer offensichtlicher. Deutschland - es ist nur noch ein Wrack auf einem Felsen, von Wogen gepeitscht und der Vernichtung ausgeliefert. Wo ist die Feder, die die grauenhafteste Bilanz eines politischen Systems, das ohnegleichen in der Weltgeschichte sein dürfte, in allen Einzelheiten aufzuzeichnen imstande wäre?! Unverhohlen klingt der Triumph aus den Meldungen der Alliierten, denen die Logik der Geschichte und damit auch Gott Recht gab, und neben der Katastrophe der existenziellen Vernichtung haben wir nun auch noch die Schande und die Verachtung der anderen Nationen zu tragen. Aber wo in der Welt hat sich ein Volk auch so entmündigen, demütigen, zum Sklaven machen lassen, wo sind die nationalen Untugenden und Fehler auch größer als bei uns, wo jemals hat ein Volk ein so perverses Otterngezücht aus seinem Blut geboren, wie es die SS darstellt?! Und wo ist soviel sinnlos gelitten worden? - Die ganze Furchtbarkeit unserer Lage wird uns in den folgenden Monaten zu Bewußtsein kommen. Todmüde sind wir alle, ausgebrannt. Der Preis, der wir für den Tod der unwürdigen Tyrannis zahlten, ist zu hoch, er umfasst unser Dasein. Aber dennoch, in diesem fast neutralen Zustand jenseits von Freude und Schmerz, spürt man den Schimmer einer Hoffnung, daß aus der Wüste einst Neuland werde, aus dem eine neue Saat aufgehen werde, die die Ehre eines Landes, das Bach, Goethe, Beethoven hervorgebracht hat, wieder herzustellen in der Lage ist. Wenn wir nur noch Freiheit, Kraft und Möglichkeit haben, Aufbereiter dieses Bodens zu sein!

Alle Ausflüchte sind sinnlos, es gibt nur den Weg bedingungsloser Bereitschaft vor dem Willen der anderen, die die von Gott Erfüllten (ob Gesegneten ist fraglich) waren und seinen Willen vollstreckten. Mögen sie ihre Macht nicht mißbrauchen! Ob Deutschland diese furchtbarste Züchtigung, die je einem Volk auferlegt wurde, bleibt dahingestellt [sic!]. Wenn wir die Welt davon überzeugen wollen, daß der Nazismus uns nicht völlig zersetzt hat, daß die stille Resistenz wirklich vorhanden war, so wird das nicht geschehen. Der Prozeß der Purifizierung wird noch andauern müssen, gleich einer großen Seuche, die sich austoben will und nur durch schärfste Mittel gedämmt werden kann. Und daß kein Rückfall eintrete: die preußische Seite des Volkes, sein Säbelrasseln und sein Vorgesetztenterror, das muß sterben, für jetzt und alle Zeiten, und politische Größe mag ihm erst dann beschieden sein, wenn es reif und von der Demokratie als der besten unter den Staatsformen, die ja alle unzulänglich sind, durchdrungen ist. Aber das ist noch ein weites Feld. Zuerst müssen neue Fundamente geschaffen werden, in die echter Kosmopolitismus und wahre soziale, christliche Humanität eingemauert werden müssen! - Die Tage gehen hin in Ungewißheit, der sinnlose Mechanismus der alten Maschine keucht in den letzten Zügen und eine leise Daseinsangst überschauert Leib und Seele. -