Bernhard Grossmann |  Aufzeichnungen aus dem Krieg


Juni 1945


Juni 1945. Ampfing
 
Die Tage der Prüfung sind längst noch nicht zu Ende. In den beiden Wochen nach Pfingsten nahm das Leben in Erding qualvoll stagnierende Formen an. Mit der Verpflegung war unmöglich auszukommen, 250 gr. Brot und einen knappen halben Liter Suppe am Tag - aus deutschen Beständen. Schiebung blüht - überall dort, wo ein letzter Rest preußischer Verwaltung bleibt. Man ist gezwungen, zum Arbeitsdienst zu gehen, auf die Gutmütigkeit der Menschen zu hoffen oder direkt zu betteln oder es der Gunst der Amerikaner zu überlassen, uns ein paar ihrer ausgezeichneten Konserven hinzuwerfen. Tausende drängen sich am Morgen, verwahrlost und ungepflegt die meisten, um wie Vieh auf LKWs gepresst zu werden. Sie werden zu irgendwelchen Arbeitsstellen gefahren, begehrt sind die amerikanischen Kommandos, aber auch erniedrigend. Es gab Kommandos, die Russenlager reinigen mußten, Reinigungsdienste sind sehr beliebt, wenn es meist auch nur eine Art Beschäftigungstheorie ist. Ich werde nicht vergessen, wie ich am 29.5. (?) in Wartenberg von der Hauptstraße kleine Papierschnitzel aufklauben mußte, natürlich unter Bewachung, aber die Posten waren sehr nett und später geradezu freundschaftlich.


Sehr unangenehm war ein Arbeitsdienst am 23.5. in Kraiburg bei einem HQ, wo wir Gebäude reinigen mußten, ein Wasserbassin voller Schlamm leeren, Sträucher umhauen, einen Baseball-Platz herrichten und dann unter Aufsicht jüdischer Posten Kehrichthaufen forträumen mußten noch nach 20.00 Uhr, woran sich eine qualvolle Rückfahrt in strömendem Regen anschloß. Am Fronleichnamstag teerten wir Straßen, wobei ich meine ganze Energie darauf konzentrierte, keinen Teerspritzer an die Hosen zu bekommen, was mir auch fast gelang. Am nächsten [Tag] Steine klopfen in den Trümmern von Erding, nachdem wir uns in der Volksküche nocheinmal richtig satt gegessen haben. Ich lerne dabei einen ganz netten Dipl.Ing. aus Berlin kennen, mit dem ich über allerlei spreche und der mich für einen klassischen Intellektuellen-Typ aus der System-Zeit hält! Aber er meint, es sei fraglich, ob dieser Geist in Zukunft noch gefragt sein werde. Ich zweifle auch daran, wenn ich den kleinen Ausschnitt amerikanischer Mentalität betrachte, der sich mir bisher bot. Eine Nation mit Civilisation, die sich sehr angenehm in den Bereichen des materiellen Lebens auswirkt, unsentimentaler Gleichmut, kühler, aufs Praktische gerichteter Verstand, Flachheit und Profillosigkeit des Intellekts, dafür aber einen gewissen humanen cant [?], Fehlen eines tieferen Kulturbewußtseins.

Ich muß noch erwähnen, daß ich in der Woche nach Pfingsten einige ausgeprägt und unmittelbar zu meiner seelischen Situation in Beziehung stehende Träume hatte: 1.) Konversion, anonymes Getriebenwerden, aber starke innere Hemmung verbunden mit Gegenbewegung des Willens. Es erschien ein katholischer Priester vor dem Altar. 2.) Ich suche für Mutti ein Hotelzimmer, wahrscheinlich in Köln. Besorgtheit, daß sie gut unterkommt. Starke Reflexe liebevoller Bindung. Finde ein Zimmer in einem Hotel, das Excelsior heißt und sich in Köln befinden kann. Realität, aber ohne Assoziation an die Wirklichkeit meiner Heimatstadt. Mutti mußte matt und ruhebedürftig sein. Bitteres Empfinden der Sehnsucht beim Aufwachen. 3.) Wiedersehen mit der Heimat in merkwürdigen Ausschnitten. Zuerst befinde ich mich in einer Wohnung, die heil und eingerichtet ist und irgendeinem Bekannten (?) in Aachen (?) gehört. Die Umgebung draußen ist zerstört, ich sehe es durchs Fenster. 2.Bild: unser Haus in Sülz. Ich nehme nicht so sehr die Zerstörungen wahr, als vielmehr die starken Farben der Außenfront, mattgrün und dunkelrote Querlinien, wie auf expressionistischen Gemälden (Picasso!). Ich habe das Gefühl, hier nicht mehr wohnen zu können. 4.) Atmosphäre: vor einem Theaterbesuch nach langer Pause. Spaltung des eigenen Ich: trage ich ein lachsfarbenes Abendkleid oder eine schemenhafte Frau mir gegenüber? Irgendeine Kleidersorge, vermutlich um Schuhe. Ich sehe dann an meinem Gegenüber (?) silberne Schuhe aufleuchten. Gefühl der Befriedigung, eine Schwierigkeit überwunden zu haben.

An den folgenden Tagen träume ich davon, bei Walters in Ebersteinburg (Seifenvorrat aus Gummi, grüner Farbeffekt!), Muntschicks und Mutti gewesen zu sein und Edit gesehen zu haben in einem großen Saal, halbnackt auf einer Bank sitzend mit kurzgeschnittenen Haaren und in trauervoller Haltung. Aufwachen, als sich die Beziehung zu diesen Menschen in ein der Wirklichkeit entsprechendes Verhältnis [hat] umbilden wollen. - Am 2.Juni wurde nach einem Dolmetscher für ein Außenkommando gefragt. Ich kann selbst nicht mehr sagen, wie ich dazu kam, mich diesem gemischten Haufen von 200 Mann anzuschließen. Von einem Entschluß konnte bei mir nicht die Rede sein, ich ließ mich treiben! Wäre ich nur im nächsten Augenblick noch entwischt! Im Lager sah es nicht nach Entlassung aus, obwohl man die Versehrten in alle besetzten Gebiete entließ. H. Weller warnte mich noch. Ich habe wieder einmal vor mir selbst versagt. Schon die Zusammensetzun des Kdos. hätte mich abschrecken müssen. Jetzt sitze ich hier einsam und völlig ohne menschliche Bindung in einer Umwelt, mit der ich noch nie etwas zu tun hatte. Glühende Hitze über trostlosem Industriegelände, draußen die lockende Freiehit der sommerlichen Welt und vor mir eine Zukunft, in der ich keinen Haltepunkt finde für den Beginn eines neuen Lebens! In Erding alles entlassen und wir auf verlorenem Posten, trotz der Zusicherung von Erding, daß wir morgen oder übermorgen abgelöst werden.
 
Juni 1945
 
America to Germany
Read now the requiem of your ruined cities
So once unparalleled in their lovely glory;
Compute, if you can, the speechless sum of pities,
The seared and stammering anguish of their story.
Learn now what dorms have turned to dust your towered
An legend - haunted yesterdays - how shattered.
To shameful shreds your lands lie, death - deflowered
Of every song and shrine that once so mattered.
Cry now, from blackened valley and broken fontains,
Some miracle may yet restore you
To that lost peace of hamlet, plain and mountain
Which not too long ago went sweet before you.
And if, perchance, thru a thousand millions cryings,
You gain the Almights ear, be glad of the gaining
And pray that your childrens troubled tryings
May yet make clean this robe of your red hands
staining.
 
Liste Alwood, Chicago Daily Tribune, May 1945